Die Villa lag am Rande der Stadt. Das Tor stand offen, doch Fred fuhr nicht auf das Grundstück, sondern lenkte das Auto an einigen Häusern mit Gärten vorbei, bis eine Parklücke gefunden war. Er tappte nach seinem Sakko, das über dem Kindersitz hing, und streifte es über. Im Sonnenlicht glänzte es speckig.

Fred griff nach der Umhängetasche und ging die lackschwarzen Gitterstäbe mit goldflammenden Spitzen entlang. Ein Bewegungsmelder klickte. In der Ferne bellte ein Hund. Aus einem kleinen, von Rosen und Efeu umrankten Schlösschen drang kindlich ungelenkes Klaviergeklimper, das er noch hörte, als er an der kaltgrauen Pforte des Anwesens angelangt war. An der Klingel kein Name. Er holte sein Mobiltelefon hervor und kontrollierte die Uhrzeit. Fünf Minuten vor zehn. Der Minister verbrachte diesen Samstag daheim bei seiner Familie. Fred wollte nicht zu früh anläuten und wandte sich ab, um noch ein wenig umherzuflanieren, doch da summte der Türöffner. Im Erkerfenster sah er eine Silhouette, eine Gestalt hinter Scheiben.

Der Weg, dunkelgrauer Basaltsplitt, führte um eine Wiese herum und vorbei an einer Garage, dahinter ragte eine hohe Eiche empor, und es war, als wache der Baum über das Domizil des Politikers. Kein Sicherheitsbeamter weit und breit.

Stell das leiser!

Fred durchschritt den Windfang. Der Minister selbst stand am Eingang und nickte ihm kurz zu. "Platz, Hermes", rief er und: "Ruhe!" Der Hund, ein Deutsch Kurzhaar, lederbraunes und grauweiß geschecktes Fell, legte sich hin. "So ist's brav", sagte der Hausherr, reichte Fred die Hand, "grüß Gott, Herr Doktor", und verzog dabei keine Miene. Der Rüde wedelte mit dem Schweif.

"Kommen Sie", sagte der Minister und lief den Stiegenaufgang aus Nussholz hoch, vom Entree in den Halbstock, nahm dabei leichtfüßig jeweils zwei Stufen auf einmal. Der Hund hechelte ihm hinterher. Fred folgte als Dritter und schleppte die Tasche mit Laptop und Manuskript hinauf. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Ein Halbwüchsiger, es musste einer der Söhne sein, lümmelte davor. Der Minister sagte: "Stell das leiser. Und sag Sophie und Julius, ich will nicht gestört werden." Er fragte Fred, ob er Kaffee oder Tee wolle, und rief nach der Haushälterin. "Zwei Cappuccinos."

Sie gingen ins Arbeitszimmer. Altes Fischgrätparkett. Die Wände holzvertäfelt, massives Kassettenmuster mit kleinen Kästchen und Kupferschlüsselchen. Hinter der Eichenverschalung verbarg sich eine Bibliothek. An einer Seite ein großer Schreibtisch und auf der anderen ein kleinerer. Der Minister bat ihn, Platz zu nehmen. Auf einem Sekretär lag der Packen Papier. Auf dem Deckblatt die Worte: "Das gute Leben". Das Manuskript, das Fred gemailt hatte.

Der Minister setzte sich nicht hin. Er schaute aus dem Fenster in den Garten. Fred saß in seiner verwaschenen Jeans und dem abgewetzten Sakko da und wartete. Er blickte auf die hagere Gestalt mit Glatze. Selbst an diesem Wochenende trug der Politiker eine blaue Anzughose und ein weißes Hemd. Das sonnengegerbte, schmale Gesicht. Ein griechisches Profil. Der Körper schlaksig, schlank, stark. Das morgendliche Joggen war ihm anzusehen. Der lange Atem war seine Stärke. Er wirkte stets ein wenig ausgelaugt, aber zäh. Die Haltung aufrecht, auch im Amt. Sein Programm waren die Mäßigung und der Kompromiss. Er setzte auf Wirtschaftlichkeit durch Einsparungen und Effizienz. Er forderte Eigenverantwortung. Seine Reden waren kurz. Seine Anmerkungen einsilbig. Er galt als pflichtbewusst und diszipliniert. Sein Dogma war, keines zu haben.

Der Minister wandte sich Fred zu, den dünnlippigen Mund leicht geöffnet, den Blick verhangen und stumpf. Er sagte: "Herr Doktor Wies, ich habe das Manuskript gelesen. Das ist ja ein starkes Stück."

Fred legte den Kopf schief und zog die Brauen hoch, als habe er die Worte nicht verstanden. "So?" Es war nicht klar, ob der Minister seine Arbeit loben oder ablehnen wollte. Der Politiker, der sonst so ruhig, so ausgewogen und beherrscht war, trommelte mit dem Ringfinger der Linken auf die Tischplatte und hatte etwas Lauerndes, Fahriges an sich. Eine Verspanntheit.

Es klopfte an der Tür, und die Haushälterin, in schwarzem Kleid und weißer Schürze, trug ein Tablett mit den Cappuccinos und mit zwei Stück Gugelhupf herein.

"Danke, Annemarie." Der Minister wartete, bis sie verschwunden war. Endlich setzte er sich und schlug die Beine übereinander. "Lassen Sie mich zunächst sagen, wie beeindruckt ich gewesen bin, wirklich."

Fred lächelte und nahm einen Schluck vom Kaffee. "Danke. Ich habe schließlich von Ihnen genug Material erhalten. Dann das Interview. Und einige eigene Recherchen. Letztlich alles keine Zauberei. Ihr Werdegang. Die Karriere in der Abteilung. Die Leitung im Spital. Die Pressemappe aus dem Ministerium ..."

"Davon rede ich nicht. Ich meine, was Sie sich über mich aus den Fingern gesogen haben."

Fred richtete seinen Kragen. "Das ist mein Job. Ich fühle mich ein in die Person, deren Memoiren ich schreibe. Es geht nicht nur um die bloßen Tatsachen. Die Daten sind nur das Skelett. Es braucht das Fleisch der Geschichte."

Der Minister verzog die Lippen, als kaue er an einem verfaulten Apfel. "Gewiss. Die bloßen Tatsachen genügen nicht."

Fred stockte kurz, tat dann aber, als habe er den Missklang nicht vernommen. Er sagte: "Als Ghostwriter muss ich hinter die Fakten blicken. Ich muss auch erklären, was unverständlich wirkt. Es ist meine Aufgabe, in die Sprache und in das Denken eines anderen Menschen zu schlüpfen, aber zugleich geht es darum, ihn aus sich herausgehen zu lassen."

"Die Frage ist bloß: Was bleibt eigentlich von einem drin, wenn Sie erst einmal alles aus ihm herausgepresst haben? Das ist die Frage", sagte der Minister zu seinen Fußspitzen hin.

"Das ist ja gar nicht meine Absicht. Das habe ich auch nicht getan. Alles aus Ihnen herauspressen."

"Nein, sicherlich nicht. Sie haben nicht alles aus mir herausgepresst."

Fred sagte: "Es muss halt schon etwas von Ihrem Inneren nach außen gelangen. Verstehen Sie? Das meine ich."

Der Minister schüttelte den Kopf: "Zweifellos! Ich danke Ihnen für diese Erklärungen zu Ihrem Metier und seinen literarischen Freiheiten."

"Nun, mein Spielraum ist doch eher eng", meinte Fred und schaute zum Fenster.

"Sie stellen Ihr Licht unter den Scheffel. Ich konnte gar nicht ahnen, wie gut Sie meine Innereien für Ihre Oberflächlichkeiten zu nutzen wissen. Aber ich bin selbst schuld daran. Wer sich freiwillig zur Wurst verarbeiten lässt, ist immer schon ein Rindvieh gewesen."

Fred griff nach der Gabel, als wollte er vom Gugelhupf kosten. Er bemerkte das Zittern in seinen Fingern. Er atmete durch. "Herr Minister, bei allem Respekt, ich versuche nur, meinen Job zu machen."

"Davon bin ich überzeugt. Und wissen Sie, was: Sie haben viel mehr als das getan."

"Immerhin: Es ist nicht einfach, Sie darzustellen, weil Sie immer so beherrscht, so gleichmütig und gefasst sind. Sicher, alles wunderbare Eigenschaften für ein Regierungsamt. Sie bewahren selbst in den schwersten Krisen die Nerven. Aber ..." Fred redete, als spräche er gegen einen Widerstand an. Er versuchte zu verbergen, wie sehr ihn die zum Programm gewordene Vernünftigkeit des Politikers anödete.

Der Minister ließ ihn nicht ausreden. "So, wie Sie das sagen, klingt es, als wäre ich ein blutleerer Zombie."

"Nein! Überhaupt nicht. Das habe ich doch nicht gesagt."

"Klar, gesagt haben Sie das nicht."

"Sie bleiben eben gelassen, wenn andere hysterisch werden." Während Fred von der Abgeklärtheit und Ungerührtheit des Ministers redete, sah er, wie gereizt der auf seine Ausführungen reagierte. Der Politiker, der sonst so staatstragend wirkte und immer eine kultivierte Apathie ausstrahlte, blickte fahrig umher, nestelte am Hemdkragen, um im nächsten Moment seine Hände ineinander zu verkrallen.

In seinem Manuskript hatte Fred diesen Mann als Verkörperung der Gelassenheit geschildert. Als einen Meister der Disziplin, der von seiner Pflicht erfüllt war, aber mit seinen Kräften hauszuhalten wusste. Er hatte im Lauf der Recherche erlebt, wie ruhig der Mann selbst bei größter Anspannung bleiben konnte. Während seine Gegner nach einer hitzigen Fernsehdebatte noch aufgewühlt weiterdiskutierten, verabschiedete er sich still, nickte seinem Fahrer zu, stieg ins Auto, um sogleich auf dem Rücksitz einzuschlummern. Ein Blitzschlaf auf der Fahrt vom Studio nach Hause.

Sie erzählen Märchen!

Fred sagte: "Eben weil Sie so kontrolliert sind, ist es wichtig, auch zu schildern, was in Ihnen verborgen ist. Um Sie den Menschen da draußen näher zu bringen."

Der Minister fuhr ihn an: "Sie erzählen Märchen über mich!" Und dann leiser, mit gesenktem Blick: "Was fällt Ihnen eigentlich ein?"

Er wisse nicht, wovon der Minister rede, sagte Fred und griff unwillkürlich nach den Zigaretten in der Seitentasche seines Sakkos. Er glaube, sich an die Tatsachen gehalten zu haben, doch der Politiker unterbrach ihn: "Frechheit!", was Fred sich einbilde, wie er überhaupt auf die Geschichte über das Fallschirmspringen gekommen sei.

"Aber das ist doch ein Hobby, dem Sie nachgegangen sind. Das weiß ich von Ihnen selbst."

Er rede nicht vom Sport an sich, so der Minister. "Ich spreche von Ihren Ausschmückungen. Von meiner Leidenschaft, die Reißleine möglichst spät zu ziehen. Sie schreiben, ich würde mit dem Tod spielen."

"Moment. Das verstehe ich nicht", sagte Fred, aber der Minister: "Lügen Sie doch nicht!" Er habe das Manuskript schließlich gelesen. Hier sei ausgeführt, wie er dieser Sucht, der Lust auf Selbstzerstörung verfallen sei.

Als der Politiker geendet hatte, fischte Fred nach seinem Feuerzeug und sagte: "Herr Minister, das ist ein Irrtum. Ich muss Ihnen den falschen Text zugesendet haben. Verzeihung. Es tut mir sehr leid."

"Was soll das wieder heißen?"

Es sei ihm peinlich, erklärte Fred. Er habe neben dem Auftragswerk eine fiktive Arbeit verfasst. Er brauche bei seinem Beruf einen Ausgleich. Während er in eine andere Person schlüpfe, um sie im besten Licht darzustellen, entwerfe er parallel dazu - nur für sich selbst - ein Schwarzbuch, in dem er den dunklen Seiten dieses Menschen nachspüre. In den Memoiren, die für die Öffentlichkeit gedacht seien, beschönige er manchen Charakterzug. In der fiktiven Fassung mache er das Gegenteil. Er könne nicht anders. Diese Abschweifungen würden, so Fred, seine eigentliche Aufgabe erleichtern. Mehr noch: Durch diese negative Skizze gewinne das Porträt, das er für die Allgemeinheit schaffe, an Tiefe und Farbigkeit.

Täglich eine Katastrophe

Fred nahm einen Schluck Wasser. "Wie dumm, Ihnen die falsche Version zugesendet zu haben. Bitte entschuldigen Sie." Es sei seine große Sehnsucht, frei zu schreiben. Sie helfe ihm über die Pflicht als Ghostwriter hinweg. Aber, beteuerte Fred, es sei im Grunde ja nichts geschehen. "Niemand kennt diesen heimlichen Entwurf. Nur wir beide. Werfen Sie ihn weg. Es geht bloß um die von Ihnen beauftragten Memoiren. Ich habe sie dabei", sagte er.

"Es ist zu spät", flüsterte der Politiker.

"Aber wieso denn?"

"Es hat mich nicht mehr losgelassen. Es ist, wie Sie beschrieben haben ... Die Anspannung. Täglich irgendeine Katastrophe. Immer gerade ein Weltuntergang. Und wie ich dabei ununterbrochen ruhig bleiben muss ... Und nie Zeit für das Eigentliche. Nur für das Dringliche. Alles unaufschiebbar. Und dann kommt diese Idee daher, den Fallschirm erst im letzten Moment zu öffnen."

"Das ist reine Fiktion!"

"Nicht ganz. Ich habe es nicht gewusst. Erst beim Lesen kam mir der Gedanke: Es war mein verborgener Wunsch."

Fred lächelte: "Wie gesagt, ich versuche eben, mich in andere hineinzuversetzen."

Der Minister nahm ihn nicht wahr. Er sprach wie im Traum. "Wie berauschend, erst ganz zum Schluss die Leine zu ziehen."

Fred erschrak: "Sie haben es doch nicht getan?"

"Ich weiß nicht, was in mich fuhr. - Vielleicht gefiel mir die Person, die Sie von mir zeichneten, besser als das, was ich von mir bisher kannte. Zunächst waren da bloß die musikalischen Vorlieben, die Sie mir andichteten. Ich hörte mir die Songs an, von denen Sie behaupteten, sie seien meine Lieblingsnummern, und wirklich, Sie haben recht, ich bin zu einem Fan dieser Bands geworden - Aber dann ... Die Idee, ins Ungewisse zu stürzen. Sich fallen zu lassen. Im Wind zu fliegen wie ein Blatt. Mit dem Leben zu spielen. Der Gedanke, sich selbst nicht mehr so fern zu sein. Sich zu spüren."

"Zum Glück ist Ihnen nichts geschehen. Niemand wird davon erfahren."

"Sie verstehen immer noch nicht. Ich zog die Reißleine zu spät."

"Was soll denn das heißen?" Für einen Augenblick fragte sich Fred, ob der andere den Verstand verloren hatte. Er holte die Zigaretten aus dem Sakko.

Der Minister sagte: "Sicher, ich bin unverletzt. Ich habe alles heil überstanden. Körperlich zumindest. Aber als ich den Mechanismus endlich ausgelöst habe, da war ich überzeugt, den Sprung nicht zu überstehen. Verstehen Sie? Ich bin davon ausgegangen, am Boden zu zerschellen."

Ein Untoter sei er seither, sagte der Politiker. An diesem Tag sei irgendetwas in ihm gestorben. Vielleicht sei er aber damals auch zu neuem Leben erwacht. Wer könne das schon abschätzen? Die Sucht habe ihn jedenfalls nicht mehr losgelassen. Es sei ihm genauso ergangen, wie Fred es in seinem Text schilderte.

Während der Stürze, so der Minister, sei er in Hochstimmung. Danach schwöre er sich immer, es nie wieder zu tun. "Das Erlebnis war wie ein Kick und weckte in mir den Hunger auf andere Leidenschaften. Mit diesem Sprung ins Nichts verlor ich jeden Halt. Das Roulette in der Luft hat mich verändert. Es ist genau so, wie Sie schreiben, Herr Doktor. Die nächtlichen Spiele im Netz. Die Kontakte mit Wildfremden."

Fred fragte leise: "Haben Sie meinen Text als Handlungsanleitung gelesen?"

"Ich habe mich in ihm wiedergefunden. Es ist mir ja gar nicht um eine bestimmte Perversion gegangen. Alles wurde zum Zwang."

Fred nahm eine Zigarette aus der Schachtel und schaute sich nach einem Aschenbecher um. Er fragte: "Darf ich hier rauchen?"

"Wir können kurz an die frische Luft gehen. Im Garten."

Fred winkte ab. "Nicht so wichtig." Und dann: "Und die riskanten Spekulationen? Das Spiel an der Börse?"

"Auch das. So wie Sie es vorhergesagt haben. Und die Aktien im Sturzflug. Freier Fall. Ganz ohne Fallschirm."

Der Minister hatte die letzten Worte leise gesprochen, um dann laut fortzufahren: "Mein ganzes Denken kreist nur noch um diese Unsinnigkeiten." Er fuhr sich durch die Haare. "Ich kann mich nicht mehr auf mein Amt konzentrieren. Verstehen Sie? Ich bin sogar mit dem Lesen Ihres Manuskripts nicht mehr vorangekommen. Ich war erst bei der Hälfte des Textes, als ich in den Fernen Osten flog."

Exkursion nach Osaka

Er sei in Asien gewesen. Staatsbesuche. Er war von einer Stadt zur nächsten gehetzt. Sein Körper nahm die Termine wahr; sein Geist nicht. Das Kooperationsabkommen mit den Gesundheitsverantwortlichen in Peking. Die Besichtigung von Spitälern in Schanghai. Die Vorträge über den komplementären Einsatz chinesischer Behandlungsweisen. Das Treffen mit dem Amtskollegen aus dem Reich der Mitte. Die Konferenz in Tokio. Die Gespräche mit japanischen Regierungsvertretern. Die Exkursion nach Osaka. Immer unterwegs, aber überall umgeben von seinen neuen Lastern. Er sagte: "Alkohol war das geringste Problem. Im Gegenteil. In diesem einen Punkt bin ich meinen Kollegen ähnlicher geworden denn je."

Das Manuskript, erklärte der Politiker, habe er in seinem Arbeitszimmer liegen gelassen. "Da, auf diesem Rundtisch. Ich wollte es erst nach meiner Rückkehr weiterlesen. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass meine Frau sich dafür interessieren würde."

"Ihre Frau?", fragte Fred und erst in diesem Augenblick bemerkte er, dass er sie, die schlanke Rothaarige, die ihn sonst immer an der Haustür empfing, heute noch nicht gesehen hatte.

"Vom Anfang bis zum Ende."

"Auch die Affäre mit Ihrer Pressesekretärin?"

Der Minister sagte: "Sie war, als ich wiederkehrte, schon ausgezogen. Ich wusste ja noch gar nichts von diesem Schlusskapitel. Ihr Abschiedsbrief lag neben dem Packen Papier da. Nur wenige Zeilen: Ihre Scheidungsklage folgt. Sie hat meine Memoiren - ja, sie glaubt, Ihr Fantasieroman seien meine Memoiren - nicht nur gelesen, sondern kopiert. Als Beweismittel. Falls es zu einem Verfahren kommt. Kurzum: Sie verlangt die Hälfte von allem. Die Kinder hat sie bei mir zurückgelassen. Sie habe sich, so schreibt sie, lange genug für mich und meine Karriere aufgeopfert."

Fred sagte: "Herr Minister, damit kommt sie nicht durch."

Der Minister zuckte mit den Achseln: "Zwischen den Zeilen droht sie mir mit der Veröffentlichung der intimsten Passagen aus Ihrem Text. - Falls ich nicht zahlen sollte."

Fred griff nach seiner Tasche und holte seine Arbeit hervor. Er legte die Blätter neben den Gugelhupf. "So. Das sind Ihre Memoiren. Ich kann vor Gericht bezeugen, dass ich immer an zwei Fassungen zugleich sitze. Dass die beiden Varianten von mir vertauscht wurden."

Der Minister stand auf. Er ging ans Fenster. Fred folgte ihm. Sie schauten beide in den Garten. Ein Rasensprenger schoss im Kreis Wasserstrahlen über die Wiese. Über dem Grasgrün lag ein Regenbogen. Unweit des Hauses war ein kleines, freistehendes Schwimmbecken für Kinder aufgestellt. Ein roter Gummiball und Plastiktiere trieben auf dem Nass.

Weiter hinten sah Fred eine Anhöhe mit Stauden und Blumenbeeten. Die Birke. Die honiggelbe Pergola, an der sich Kletterpflanzen hochrankten. Der Klapptisch, die Sonnenliegen mit blau-weiß gestreiften Matratzen. Der um eine Trommel gewickelte Gartenschlauch. Jenseits des Zaunes stand ein Nachbar auf einer hölzernen Leiter, die an einem Obstbaum lehnte. Der Mann pflückte Weichseln und warf die Früchte in den Blechkübel, der an dem Ende eines Holms eingehängt war. Der Anblick beruhigte Fred.

"Sie werden sehen", sagte Fred, "es wird alles wieder gut. Sie kommt zurück. Wenn sie erfährt, dass der Betrug nur aus meiner Fantasie stammt, kehrt sie zu Ihnen heim. Es ist die Affäre mit der Pressesekretärin. Sobald sie weiß, dass alles nur erfunden ist, wird sie Ihnen verzeihen."

Der Minister schüttelte den Kopf. "Ich bin mittendrin. So, wie Sie es schildern."

"Aber Sie hatten doch das Manuskript noch gar nicht zu Ende gelesen. Das haben Sie doch gerade gesagt."

Der Minister nickte. Er sei der Vorlage dennoch gefolgt. Gleichsam blindlings.

Früher, sagte der Minister, wäre er nie auf die Idee gekommen, so einer Versuchung nachzugeben. Er hatte die ganzen Jahre nicht einmal bemerkt, wie sehr ihm diese Frau, mit der er zusammenarbeitete, gefiel. Aber diesmal - übernächtigt und aufgerieben durch alle anderen Exzesse - war es ihm unmöglich gewesen, dem Reiz zu widerstehen. Er sagte: "Es begann in Schanghai. Wir können seither beide nicht mehr damit aufhören. Es frisst uns auf. Wir verzehren uns nacheinander. Es ist stärker als alles, was ich bisher erlebte."

Fred schaute ins Leere, aber nach einer Weile wurde die Stille unerträglich. "Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Es ist traurig, aber keine Tragödie, wenn Ehen auseinandergehen. Ich weiß, wovon ich spreche."

Der Minister blickte ihn abschätzig an: "So?" Der hochgewachsene Mann streckte den Rücken durch. "Mein Rücktrittsgesuch ist bereits eingereicht. Ich war nie einer von diesen Parteipolitikern. Ich bin ein Quereinsteiger." Und dann - nach einer Weile: "Es hat einfach keinen Sinn. Ich kann nicht weitermachen wie bisher."

Fred kehrte zum Tisch zurück und hob seine Tasche vom Boden auf. "Dann werde ich jetzt wohl gehen." Der Andere stand noch immer am Fenster und nickte leichthin, worauf Fred ein paar schnelle Schritte auf ihn zu machte, um sich zu verabschieden, und mit einem Mal wollte er diesen großen Mann umarmen und ihm auf die Schulter klopfen, doch der Minister streckte die Hand weit vor und hielt Fred auf Distanz, als fürchte er jegliche Berührung.

Fred wandte sich um und öffnete die Tür des Büros. Von draußen drang Bubengeschrei herein. Er sagte: "Immerhin. Die Kinder. Sie werden heute Abend endlich einmal Zeit für sie haben."

Der Andere sah auf, schaute Fred in die Augen, und dann lächelte er zum ersten Mal an diesem Tag freundlich - beinah ein wenig versonnen. Er sagte: "Diesmal leider nicht, Herr Doktor. Das Wetter ist ruhig. Der Termin ist gebucht. Ich gehe Fallschirmspringen." (Doron Rabinovici, Album, DER STANDARD, 6./7.7.2013)