Seit mehr als drei Wochen wird uns nun Stück für Stück offenbart, wie sehr unsere Gesellschaft schon einem Orwell'schen Überwachungsstaat ähnelt - bloß dass die Missachtung des Menschenrechts auf Privatsphäre längst über jeden "Staat" hinausgeht und eine globale, sich demokratischen Prozessen entziehende Bedrohung darstellt.

Die europäische Politik zeigte sich angesichts dieser skandalösen Enthüllungen bisher großteils hilflos. Erst die jüngste Offenbarung, wie sehr die USA europäische politische Einrichtungen bespitzelt, bringt unsere Politikerinnen und Politiker merkbar auf - als es "lediglich" um die flächendeckende, verdachtsunabhängige Überwachung einfacher Bürgerinnen und Bürger ging, war die Entrüstung noch weitaus verhaltener.

Ein paar markige Worte von EU-Kommisarin Reding waren da schon die konkretesten Maßnahmen. Das offizielle Österreich schloß sich einem höflichen Brief aus Deutschland mit dem Ersuchen um gnädigste Aufklärung an. Ohne jeglichen Sinn für Ironie sollten die Fragen über die geheimen Überwachungsprogramme anfangs ihrerseits vor den Bürgerinnen und Bürgern, in deren Namen sie gestellt wurden, geheimgehalten werden.

In der Zwischenzeit ist der Whistleblower Edward Snowden weiterhin auf der Suche nach einem Staat, der die Aufdeckung von massiven Bürgerrechtsverstößen nicht mit Abschiebungshaft ahndet. Ausgerechnet Hong Kong, Russland und Ecuador müssen als Verteidiger der Freiheit herhalten - ein Armutszeugnis für Europa!

Europa ist unsere einzige Hoffnung

Dabei ist Europa unsere einzige Hoffnung. Internationalen Herausforderungen muss man international begegnen. Keine andere Region als Europa erfüllt wenigstens ansatzweise die geschichtlichen, politischen, diplomatischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, um eine klare Vorreiterrolle einnehmen zu können, was die Wahrung der Bürgerrechte und die Sicherstellung staatlicher Transparenz betrifft. An diesem Scheidepunkt zwischen einer Gesellschaft, die ihren Bürgerinnen und Bürgern Freiräume und Möglichkeiten schafft, und einer, die die Rechte der Einzelnen immer mehr aushöhlt, müssen wir die richtige Wahl treffen. Die folgenden sechs Punkte würden uns auf diesen Weg bringen:

1. Whistleblower müssen geschützt und nicht verfolgt werden. In einem Staat, der von sich behauptet, durch das Volk und für das Volk regiert zu werden, kann es kein Verbrechen sein, Handlungen öffentlich zu machen, die dieser Staat im Namen seiner Bürgerinnen und Bürger zu deren angeblichem Schutz setzt. Die Justizminister der EU-Länder müssen ein unmissverständliches Signal setzen, dass Snowden und allen anderen verfolgten Whistleblowern ein Recht auf Asyl beziehungsweise subsidiären Schutzstatus zusteht.

2. Das heimtückischste an den Geheimdienst-Aktivitäten ist, dass über sie per Definition kein informierter, rationaler öffentlicher Diskurs möglich ist. Ohne solchen kann Demokratie nicht funktionieren. Die EU muss all Möglichkeiten ausschöpfen, um die Faktenlage festzustellen - beginnend mit der Einrichtung eines Untersuchungsausschusses im EU-Parlament. Im Jahr 2001 hat ein solcher Ausschuss über das Spionagesystem Echelon auf 194 Seiten Fakten ans Licht befördert und Einschätzungen der Rechtslage geliefert.

3. Derzeit wird im EU-Parlament unter starkem Lobby-Einfluss die neue Datenschutz-Grundverordnung verhandelt. Der allererste geleakte Entwurf enthielt noch einen Passus, der Grenzen für den Zugriff ausländischer Gerichte auf europäische Daten setzte - in der offiziellen Version war er dann verschwunden. Dieser Artikel 42 muss wieder eingeführt und die Verordnung generell gestärkt werden. Die "Safe Harbor"-Prinzipien ermöglichen US-Firmen unbürokratisch und ohne Kontrolle zu erklären, dass sie EU-Datenschutzanforderungen genügen. Die an Prism beteiligten Firmen haben mit der Datenweitergabe an die NSA gegen diese Prinzipien verstoßen und damit demonstriert, dass sie das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben sind. Zahnloser Datenschutz ist kein Datenschutz - Safe Harbor muss aufgelöst und neu verhandelt werden.

4. Dem Wettrüsten der Geheimdienste muss mit einem Überwachungs-Abrüstungsabkommen Einhalt geboten werden. Aber auch abseits der Nachrichtendienste ist die Liste der supranationalen Angriffe auf die Netzfreiheit lang: ACTA, SWIFT, PnR, INDECT, IPRED, usw. Wir dürfen nicht immer nur auf der Verteidigerseite sein. Nur mit einem Abkommen, das die Rechte im digitalen Raum explizit sichert, können wir sicherstellen, dass das Internet weiterhin der Unterstützung und Verbreitung demokratischer Grundwerte dient und nicht zur Unterdrückung von Freiheitsrechten missbraucht wird. Auch wenn die Unterschrift der üblichen Verdächtigen unter solchen Abkommen derzeit unwahrscheinlich ist, muss die EU hier mit gutem Beispiel voran gehen und beginnen, Druck aufzubauen.

5. Bestehende Projekte wie das britische Tempora müssen verboten und ähnliche zukünftige Entwicklungen in der EU schon im Vorfeld verhindert werden. Das direkte Anzapfen von Internet-Backbones und Tiefseekabeln muss explizit illegal sein. Die Möglichkeit zum Abgriff und zur Speicherung aller Internetkommunikation kompromittiert jede Kommunikation. Der unweigerlich folgende Vertrauensverlust bedroht neben der freien Meinungsäußerung auch wirtschaftliche Interessen europäischer Unternehmen. Die verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung, die seit einem Jahr in Österreich in Kraft ist, ermöglicht genau jene Kompetenzüberschreitungen, wie sie derzeit unter Prism und Co stattfinden. Wird sie nicht schon in Kürze vom Europäischen Gerichtshof gekippt, muss sie auf politischem Weg abgeschafft werden.

6. Und schließlich müssen Konsumentinnen und Konsumenten als zusätzliche Option, ihre Privatsphäre zu verteidigen, die Möglichkeit haben, Software und Dienste zu nutzen, die diese besonders schützen. Die EU gibt jährlich Millionen für Forschungsförderung aus - ein Teil dieses Topfes muss für derartige Projekte reserviert werden.

Alle diese Maßnahmen sind realistisch machbar - es fehlt höchstens an politischem Willen. Solange der noch durch Wählerinnen und Wähler beeinflussbar ist, müssen wir alle unsere Anstrengungen intensivieren, bevor wir uns irgendwann die Frage gefallen lassen müssen: Was haben wir zur Verteidigung unserer Freiheit unternommen, als es noch nicht zu spät war? (Christopher Clay, Leserkommentar, derStandard.at, 4.7.2013)