Knapp zweieinhalb Jahre nach der ersten Revolution spielte die ägyptische Armee wieder Deus ex machina: 2011 ließ sie einen der Ihren, den ehemaligen Luftwaffengeneral Hosni Mubarak, fallen, diesmal entschied sie gegen den Muslimbruder, dessen Wahl zum Präsidenten sie vor einem Jahr nolens volens zuließ - und der sich in der Folge dafür revanchierte, indem er die Sonderstellung der Militärs in der neuen umstrittenen Verfassung nicht antastete.

Diese Verfassung setzt die Armee nun außer Kraft, weil Mohammed Morsi keine politische Einigung mit der Opposition erzielte, die Präsidenten-Neuwahlen verlangte. Ein Teil der Ägypter glaubt fest daran, dass die Armee prinzipiell im Interesse der Menschen handelt. Aber auch wenn versucht wurde, dem Schritt durch ein massives Aufgebot von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens - von Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei über den Al-Azhar-Großscheich Ahmed al-Tayyeb bis zum koptischen Papst Tawadros II. - Legitimität zu verleihen, so bleiben die Militärs doch zweifelhafte Hüter der Demokratie. Die Verfassungsänderungen, die die Armee im Sinn hat, werden sich wohl kaum auf die von der Opposition beanstandeten Paragrafen im jetzigen Text beziehen.

Armeechef Abdelfattah al-Sisi hat in den vergangenen Tagen immer wieder versichert, dass sich die Herrschaft des Höchsten Militärrats, wie sie 2011 bis 2012 stattfand, nicht wiederholen wird. Trotzdem gehen ElBaradei und seine Verbündeten ein großes Risiko ein: Sie haften nun quasi vor den Ägyptern dafür, dass es nicht beim Militärputsch - denn natürlich ist es das, wenn auch formal zugunsten des Obersten Verfassungsgerichtshofs - bleibt. Besonders für Tawadros beziehungsweise die ägyptischen Christen könnte es tragische Folgen haben, falls der Übergang misslingt.

Beginn einer Dolchstoßlegende

Den Fahrplan, den al-Sisi verkündete, muss man sich erst näher ansehen. Einen neuen Präsidenten werden die Ägypter sicher bald wählen dürfen, aber auf Parlamentswahlen müssen sie wahrscheinlich noch länger warten. Ägypten ist ja nun schon über ein Jahr ohne Abgeordnetenhaus, das wegen Wahlrechtsmängeln von der Justiz aufgelöst wurde. Anfang Juni wurde auch die zweite Kammer für unrechtmäßig zustande gekommen erklärt, sie sollte aber bis zu den nächsten Wahlen weiterarbeiten. Nun sollen „neue Kriterien“ für Legislativwahlen geschaffen werden. Nach Lust auf ein starkes Parlament klingt das nicht, ebenso wie die "neuen Regeln" für die Medien, die al-Sisi ankündigte, nicht nach einer Stärkung der Pressefreiheit aussehen.

Durch den Sturz Morsis hat die Armee zwar erst einmal einen Sektor der Gesellschaft weg von den Straßen. Für einen anderen, mindestens ebenso großen, ist es der Beginn einer Dolchstoßlegende. Teile der Muslimbrüder könnten sich wieder radikalisieren, was im schlimmsten Fall in ein algerisches Szenario führen könnte. 

Dort wurden die Wahlen im Jänner 1992 abgebrochen, als sich ein islamistischer Sieg abzeichnete. In Ägypten haben die Islamisten hingegen ihre Chance bekommen - und versagt. Es wird ihnen allerdings von vielen Menschen weniger demokratiepolitische als soziale und wirtschaftliche Unfähigkeit vorgeworfen. Ob andere politische Kräfte im nächsten Jahr die Verbesserung der Lebensumstände in dem Maß herbeiführen können, das die Demonstranten fordern, bleibt zu sehen. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 4.7.2013)