Élémir Bourges, französischer Dichter der Décadence.

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Wien - Der poetisch hochwertigste Beitrag zum Richard-Wagner-Jahr ist 130 Jahre alt. Der Roman Götterdämmerung des Franzosen Élémir Bourges erschien 1884. Zu diesem Zeitpunkt war der Bayreuther Meister seit einem Jahr unter der Erde. In Frankreich erklomm Wagners Ruhm erst den Zenit. Die Niederlage von 1870/71 war verdaut. Bereits 1876, als das Festspielhaus auf Bayreuths Grünem Hügel den Spielbetrieb aufnahm, strömten Frankreichs Intellektuelle wissbegierig nach Franken, unter ihnen Ernest Chausson, Vincent d'Indy, Claude Debussy.

Eine Ausnahme bildete Bourges (1852-1925), der für eine solche Reise wohl noch zu jung und unbedeutend war. Wie bei vielen seiner Landsleute gründete seine Wagner-Faszination auf gediegener Halbbildung. Französische Kapellmeister spielten bloß Auszüge aus den Opern, Bildungsbürger mit Geschmack behalfen sich mit Klavierauszügen.

Genau genommen ist auch der Wagner des Romans Götterdämmerung ein Phantom. Geschrieben wird das Jahr 1866. Karl, der Herzog von Blankenburg, feiert in seiner Residenz ein rauschendes Fest. Wie für viele Vertreter des Hochadels ist auch für Karl die Kunst bloß Dekoration.

Wagner ist höchstpersönlich anwesend, um aus seiner Tetralogie Der Ring des Nibelungen einen Ausschnitt zu dirigieren. Eine große Rolle spielt das für Karl nicht. Der notorische Schlemmer und Genießer richtet Feste allein deshalb aus, um die Mitwelt durch Prunkentfaltung zu überwältigen. Wer den Opernsaal betritt, soll ihn sehen, sein geschminktes Gesicht, seine Diamanten, die Hand, die nachlässig ein Sorbet löffelt.

Für die Gewalttätigkeit von Herrschaftsansprüchen besaß Bourges einen feinen Riecher. Sein Roman gehört zu den erlesenen Erzeugnissen der literarischen "Décadence". In ihm gibt es kein Leben ohne Dekoration. Wie verschnörkelte Gebäudespitzen ragen die Vertreter des Hochadels in das Zeitalter der Moderne hinein. Jemand wie Herzog Karl versichert sich der Dienste Wagners. Sehr viel näher sind ihm aber seine Hengste. Er sammelt Edelsteine, Juwelen, Münzen und Mätressen. Er stopft importierte Südfrüchte in sich hinein und spült sie mit Olmützer Bier herunter.

Dieser vage an Ludwig II. erinnernde Potentat ist ein König ohne Land. Das Duett von Siegmund und Sieglinde aus der Walküre ist nicht verklungen, da eilt ein Bote in seine Loge. Die Preußen haben die Grenzen seines Herzogtums überschritten, und dummerweise ist Karl mit den Österreichern im Bunde. Der Herzog emigriert nach Paris. Begleitet wird er von seinen fünf Kindern, die durch die Allgegenwart des Luxus im Gemüt erkrankt sind. Wichtiger aber sind ihm die erlesenen Stücke Hausrats und die unfassbaren Mengen Geldes, die ihm ein angelsächsischer Bankier beschafft.

Die Geschichte des armen Herzogs ist eine böse Travestie des Nibelungen-Stoffes. An Wotan erinnert die Verstrickung Karls in ein unsichtbares Netz aus Verpflichtungen. Der Blankenburger aber ist keine politische Gestalt. Er laviert sich durch die Leere seiner Tage und inszeniert sein Leben als Kunstwerk.

Alberichs "Zwerge" im Bergwerk sieht man nicht. Stück für Stück geht Karls Familie an ihrem starren Genusskonzept zugrunde. Tatsächlich verhalten sich alle Figuren in Bourges vorzüglichem Buch wie Opernhelden. Während ringsum die Industrialisierung von der Welt Besitz ergreift, verkommt das Leben jeder einzelnen Figur zum Ausstellungsstück. Selten bekam man Wagner genauer in den Blick. Hinter der Idee des Gesamtkunstwerks lauern Siechtum, Entkräftung und Verfall. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 4.7.2013)