Sarejvo - Dreizehn Ziffern. So lang ist in Bosnien-Herzegowina die Identifikationsnummer. Es sind Ziffern, die in dem Land am westlichen Balkan Anfang Juni zur größten Protestwelle seit langem geführt haben - manche sprechen von einer politischen Krise, andere von einem "bosnischen Frühling".

Die Identifikationsnummer wird in Bosnien-Herzegowina benötigt, um Teil des Sozialstaats zu sein. "Ohne diese Nummer existiert man nicht" - ein Satz, den man in Bosnien dieser Tage oft hört, so auch von Aldin Arnautović, einem Aktivisten der ersten Stunde. Ohne sie bekommen Neugeborene keine Sozialversicherung, keinen Pass, keinen Ausweis.

Aufgehoben

Im Februar hob der Verfassungsgerichtshof das Gesetz über die Vergabe der Identifikationsnummern auf, die Vergabe der  Nummer für den Geburtsort wurde beanstandet. Das Gericht forderte eine Änderung im Gesetz.

Der Streit um die Identifikationsnummer ist eigentlich ein Streit um die Bezirksgrenzen. Parlamentarier konnten sich bisher nicht über eine Neuordnung einigen. Die Vertreter der Republika Srpska wollen die politische Teilung des Landes in Form der Entitätsgrenzen auch in der Identifikationsnummer dargestellt haben, die Vertreter der Föderation - deren Bevölkerung überwiegend muslimisch oder katholisch ist - wollen im Gegenzug die zentralstaatliche Rolle stärken. Diese Auseinandersetzung hat dramatische Folgen.


Aldin Arnautović engagiert sich in den Protesten in Sarajevo. Foto: Pumberger

Als Anfang Juni bosnische Medien von dem schwer kranken Baby Belmina berichteten, das Aufgrund der Blockade keinen Pass erhalten konnte, reichte es einigen in Sarajevo. Das Neugeborene konnte Bosnien mangels eines Passes nicht für eine wichtige medizinischen Behandlung verlassen.

Auf Facebook schlossen sich einige Aktivisten zusammen: "Ich habe einen Artikel darüber gelesen und habe mich geärgert. Am nächsten Tag haben Bekannte mich gefragt, ob wir nicht etwas tun sollten. Wir waren insgesamt acht Leute mit Autos und blockierten die Garageneinfahrt des Parlaments", erinnert sich Aldin Arnautović. Es war der 5. Juni, die Demonstranten blieben, die Parlamentarier musste ohne ihre dunklen Dienstfahrzeuge das Gebäude verlassen.

Garagenblockade

Über Social Media und durch ihre Kontakte verbreitete sich die Blockade, an jenem 5. Juni versammelten sich schließlich rund 100 Personen. "Die Abgeordneten haben das Parlament an dem Abend verlassen, wir sind über Nacht geblieben. Am nächsten Tag waren wir 2.000 Leute", erzählt Arnautović.

Die Demonstranten umrundeten das imposante Gebäude an der Zmaj od Bosne, der Hauptverkehrsstraße der bosnischen Hauptstadt, und blockierten das Parlament. Die Parlamentarier wurden so zu Geiseln der Bevölkerung in einem Land, in dem es allzu oft umgekehrt ist.

Am Abend des 6. Juni kamen Entscheidungsträger und Bevölkerung einander nicht nahe, der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, der Österreicher Valentin Inzko, musste verhandeln. Manche Politiker versuchten an jenem Abend, durch das Fenster das Parlament zu verlassen. Es sind Bilder, die zu Ikonen des Protests wurden.

Nicht nur in Sarajevo, auch in anderen Städten wie Tuzla und Bihac wurde protestiert. Zuletzt demonstrierten am vergangenen Montag mehrere tausend Menschen vor dem Parlament in der bosnischen Hauptstadt. Unter dem Motto "Otkaz - Entlassung" gingen sie auf die Straße. Die Aktionisten fordern die Bevölkerung nun auf, bis zum 1. August keine Zahlungen an die Regierung zu leisten und so ihren Protest auszudrücken.

Es sind Proteste, die von der politischen Führung so nicht erwartet wurden. Statt Randalierern waren es Familien mit Kindern und Kinderwägen, die ihren Unmut kundtaten. Das Wort von der "Baby-Revolution" machte in Sarajevo die Runde. Doch keiner weiß, ob die Proteste über den Sommer nicht abflauen und welche Auswirkungen sie tatsächlich haben werden.

#JMBG

Vier Buchstaben sind das Symbol der Bewegung: JMBG, die Abkürzung für Jedinstveni matični broj građana - zu Deutsch: einheitliche Personenkennziffer des Bürgers.


Emir Hodzic ist Teil der JMBG-Bewegung. Foto: Pumberger

Unter dem Hashtag #JMBG findet der Protest nicht nur auf den Straßen Sarajevos statt, sondern auch für den Social-Media-Kanälen Facebook, Twitter und Instagram. Manigfaltig präsent im Online-Diskurs: ein weißes Blatt Papier, #JMBG darauf geschrieben, in eine Kamera gehalten. Es sind friedliche Proteste in einem Land, das von Nationalismus und Blutvergießen gezeichnet ist.

Stagnation als Modus

Die Situation in Bosnien ist verfahren. Rund 40 Prozent Arbeitslosigkeit, ein schwieriges, unüberschaubares politisches System und kaum Veränderung. Rund 3,8 Millionen Menschen leben in Bosnien-Herzegowina, das sich zu einem der ärmsten Länder Europas entwickelt hat. Korruption, mangelnde Investititionen und politische Instabilität führen dazu, dass sich Bosnien-Herzegowina im Gegensatz zu seinen Nachbarländern in den letzten Jahren schlecht entwickelt hat.

So friedensstiftend der Vertrag von Dayton ist, er schreibt auch politische Konfliktlinien in die bosnische Verfassung: die Republik Srpska auf der einen, die Föderation und zehn Kantone auf der anderen Seite. Stagnation, das ist Bosniens Modus in den vergangenen Jahren. Es scheint, das Land ist dazu verdammt.

Hängen in der Luft

"Wir bewegen uns nicht. Seit 15 Jahren leben wir in einem Ballon, der sich nicht bewegt, sondern nur in der Luft ist. Manchmal denke ich, es wäre sogar gut, wenn er explodiert", sagt die Aktivistin Nidžara Ahmetašević. Die Politikwissenschaftlerin ist Teil der JMBG-Proteste und hat von nationalistischen Ansagen genug: "Das ist für uns kein Thema. Wir wollen, dass die Politiker die Arbeit machen, für die sie bezahlt werden." Sie fordert auch ein Umdenken der internationalen Gemeinschaft.


Ort des Protests, nicht nur für Nidžara Ahmetašević: Das Parlament in Sarajevo. Foto: Pumberger

Diese begrüße zwar international die Proteste, gleichzeitig trifft man sich weiter mit der Regierung. "Sie halten sie so an der Macht", sagt Ahmetasević.

Die Proteste beschäftigen das Land. Ein Baby starb Mitte Juni in Belgrad, die Eltern machen das Problem mit der Identifikationsnummer für den Tod verantwortlich, weil sich die Ausreise aufgrund eines fehlenden Passes verzögerte. Regelmäßig trifft man sich nun um "fünf vor 12" vor dem Parlament zu einem Kaffee. Statt das in den Straßencafés der bosnischen Hauptstadt zu tun, haben die Demonstranten die Bevölkerung aufgefordert, ihren Kaffee dort zu konsumieren und so ihren Unmut über die Tatenlosigkeit kundzutun.

"Wir sind unzufrieden, weil die Politiker nicht im Interesse der Bevölkerung arbeiten. Die Politiker akzeptieren das Urteil des Verfassungsgerichtshofs nicht", sagt Muhidin Siljak, der sich zu einem der Protesttreffen Ende Juni eingefunden hat. Doch wann haben die Proteste ihre Wirkung erreicht? "Die Proteste waren in jedem Fall ein Erfolg", sagt er, "alleine schon, weil die Regierung überrascht und die Form neu war."

Vorübergehende Lösung

Zumindest eines haben die Proteste bisher gebracht: Die Regierung hat sich auf eine temporäre Ausgabe der Identifikationsnummern geeinigt. Eine vorübergehende Lösung ermöglicht nun deren die Ausgabe bis Anfang Dezember, doch das reicht den Demonstranten nicht.


Proteste am 1. Juli in Sarajevo. Muhidin Siljak engagiert sich ebenfalls im Zuge der Proteste. Fotos: Reuters/Pumberger

"Unser Hauptziel ist ein Gesetz, das das Problem der Identifikationsnummern dauerhaft und nicht nur vorübergehend löst", sagt der Student Aldin Krivan. Aber auch andere Probleme will er gelöst wissen: Die Politiker verdienten zu viel, er fordert eine Kürzung ihrer Gehälter um 30 Prozent. Und noch etwas beschäftigt die Demonstranten: Sie fordern Straffreiheit für jene, die mit dem Protest begonnen haben.

Babyvolution

Die Baby-Proteste mit Kinderwagen und Schnuller reichen mittlerweile weit über das ursprüngliche Anliegen hinaus. In einem Manifest haben die Organisatoren ihre Kernforderungen niedergeschrieben. "Die Proteste waren zuerst nur für die Babys, mit der Zeit gingen sie aber auch gegen die Regierung", sagt ein Demonstrant, der anonym bleiben möchte. "Aber Belmina war der Grund, warum wir begonnen haben", ergänzt Krivan.

Viele Demonstranten der Kerngruppe sind Angehörige einer eigentlich "verlorenen Generation", jener Generation, die ihre Jugendjahre während des Bosnienkriegs durchlebte, überlebte. Sie haben heute kleine Kinder, und sie sind hungrig nach Veränderung, gut ausgebildet, sind Journalisten, arbeiten in NGOs, sind Künstler, Studenten, Eltern. Nicht der Umsturz, nicht das Aufleben ethnischer Konflikte ist ihr Anliegen, sondern Veränderung - und ein Stückchen Normalität.

Faust, Schnuller, Kaffee

Unterstützung erfahren die Protestierenden auch in breiten Teilen der Bevölkerung. Glaubt man Umfragen, sind mehr als 70 Prozent für ihre Anliegen - in der Republika Srpska weniger, in der Föderation mehr.

Doch nicht nur Kinderwagen, Kaffee und Schnuller werden zum Symbol gegen die Untätigkeit der Politik, mancher Aktivist lässt sich dieser Tage auch ein Tattoo stechen. Darauf zu sehen: ein Schnuller mit einer Faust darauf.

"Bosnien-Herzegowina ist eines der überverwaltetsten Länder der Welt, mit schrecklichen Resultaten", sagt ein Demonstrant, der seinen Namen nicht veröffentlicht haben will. "Die Leute fordern eine bessere Regierung. Ein Kind ist gestorben wegen schlechter Regierungsführung."

Ein Tropfen von vielen

Der Hohe Repräsentant Valentin Inzko sitzt in seinem Büro am Miljacka, dem Fluss, der Sarajevo durchzieht. Nur wenige hundert Meter weiter, auf der anderen Seite des Flusses, liegt das Parlament, der Ort der Proteste. Das Problem der Identifikationsnummern habe das Fass nur zum Überlaufen gebracht, sagt Inzko gegenüber derStandard.at. Er hat Verständnis für die Proteste: "Die Leute haben genug davon, aber sie haben auch genug von der Politik, und das haben sie zum Ausdruck gebracht. In der internationalen Gemeinschaft haben wir uns eigentlich gewundert, dass es so lange gedauert hat." Auch seine Frustration und die seiner Diplomatenkollegen über die politische Klasse wächst von Tag zu Tag, die internationale Gemeinschaft müsse nun umdenken, sagt Inzko.


Der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, Valentin Inzko, der am zweiten Tag der Proteste vermitteln musste. Foto: Reuters

Während Kroatien vergangene Woche der EU beigetreten ist, steht Bosnien schlecht da: hohe Arbeitslosigkeit, ein durch Korruption verkrustetes System, ein komplizierter Staatsaufbau und eine politische Führung, die im besten Fall Stagnation erreichen kann. 2014 sind Wahlen in Bosnien-Herzegowina, erst dann wird sich zeigen, welche Auswirkungen die Proteste haben - oder ob sie sich bis dahin verlaufen werden.

Marathonlauf

"Politiker müssen sich bewusst werden, dass es eine Öffentlichkeit gibt", meint Senadin Musabegović. Der Demonstrant Emir Hodžić zeigt sich überzeugt: "Das ist der Anfang des Aufbruchs. Dieser Fall zeigt, dass die Bevölkerung aufwacht. Unser Ärger richtet sich gegen die Politiker und ihre Politik der Angst." Und was erwartet er sich von den Protesten? "Wir wollen, dass das Gerichtsurteil umgesetzt wird." Aber auch Hodžić ist sich bewusst: "Das ist ein Marathon, kein 100-Meter-Rennen." (Sebastian Pumberger, derStandard.at, 8.7.2013)