Die Isonzo-Mündung vom All aus gesehen: Sedimente beim Isonzo-Delta sind Zeugen früherer Ökosysteme.

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Das Delta des Isonzo an der Adriaküste ist ein eher verträumter Winkel. Wenige Kilometer weiter südwestlich liegt der Badeort Grado, aber hierher verirren sich nur selten Touristen. Die Küstenlinie ist von den Gezeiten geprägt. Der Tidenhub ist einer der größten im Mittelmeerraum. Der Pegel schwankt im Schnitt um 64 Zentimeter. Auch wenn die Zeit stillzustehen scheint, ist das Gebiet im Wandel. Dämme und andere Bauten beeinflussen die natürliche Dynamik. Es kommt zu Veränderungen in den Sedimentablagerungen - mit weitreichenden Folgen: "Das Watt verlandet sehr stark", sagt der Paläontologe Martin Zuschin zum Standard.

Für den an der Universität Wien tätigen Wissenschafter ist dieser Küstenabschnitt ein ideales Forschungsgelände. Der Experte untersucht die enormen Mengen an Muschelschalen und Schneckenhäusern, die sich in Meeresböden ansammeln. Wie ein Archiv geben diese Auskunft über frühere Ökosysteme. Die Adria gilt als das am schwersten vom Menschen beeinträchtigte Meeresgebiet weltweit, aber es gibt kaum Daten darüber, wie sich ihre Ökologie in den letzten 2000 Jahren verändert hat. Die Lücke soll zum Teil geschlossen werden.

Im Rahmen einer ersten Studie hat Martin Zuschin zusammen mit seinem Team die Molluskenfauna im Flachwasser an der Isonzo-Mündung unter die Lupe genommen. Die Forscher nahmen insgesamt 29 Sedimentproben aus den obersten fünf Zentimetern des Bodens. Die Wassertiefe betrug bis zu zweieinhalb Meter, gemessen am mittleren Wasserstand bei Flut. Das Probematerial umfasste schlammige und sandige Böden, an einigen Stellen wuchsen zudem Seegraswiesen (Zostera marina). Eine breite Vielfalt an Lebensgemeinschaften.

Große Diversität zeigte sich bei den gefundenen Molluskenarten. Nicht weniger als 78 verschiedene Spezies konnten Zuschin und seine Kollegen nachweisen. Rund ein Fünftel der Muscheln und Schnecken wurde lebend eingesammelt, beim Rest handelte es sich um leere Schalen und Gehäuse. Im Ganzen waren es 10.740 Exemplare. Die Studienergebnisse wurden im Fachmagazin Palaeogeography, Palaeoclimatology, Palaeoecology (Bd. 370, S. 77) veröffentlicht. Die Kollektion dürfte ungefähr den Zeitraum von 1950 bis heute umfassen, meint Zuschin. Altersbestimmungen wurden nicht durchgeführt.

Lediglich 29 Arten ließen sich als lebendige Tiere nachweisen. Eine statistische Analyse zeigte, dass dieser relativ kleine Anteil am gesamten Artenspektrum nicht wirklich ein Zeichen abnehmender Vielfalt ist. Manche Mollusken kommen eben nur in geringer Dichte vor.

Generalisten und Spezialisten

Die Proben stellen nicht nur einen Auszug aus dem Meeresboden-Archiv, sondern auch eine Momentaufnahme dar. Das Zufallsprinzip bestimmt, ob eine seltenere Spezies lebend vertreten ist. Ihr Vorhandensein als leere Hülle ist umso wahrscheinlicher, je mehr Zeit verstrichen ist.

Unter den Arten sind sowohl Generalisten wie auch Spezialisten mit interessanten Eigenschaften. Zu den Letzteren gehört die Muschel Loripes lucinalis, die Schwefelbakterien in ihren Kiemen birgt. Die Einzeller sind chemoautotroph - sie nutzen gelöste Sulfide zur Energiegewinnung und der Produktion von Kohlenhydraten. Dadurch wird auch die Nährstoffversorgung des Wirts, der Muschel, verbessert. L. lucinalis wurde an der Isonzo-Mündung zahlreich lebendig gefunden, hauptsächlich in schlammigen, sauerstoffarmen Böden. Von der unter Feinschmeckern begehrten Austernspezies Ostrea edulis dagegen wurden nur leere Schalen nachgewiesen. Sie kommt aber durchaus noch in der nördlichen Adria vor, betont Zuschin.

Die Durchsicht der obersten Bodenschichten lieferte keine Hinweise auf markante Verschiebungen im Artenspektrum in den letzten Jahrzehnten. Ein anderes Bild ergab sich, wenn die Forscher tiefer vordrangen. Bis circa 30 Zentimeter. Solche Proben repräsentieren möglicherweise Ablagerungen bis Anfang des 18. Jahrhunderts. Und über diesen Zeitraum hinweg gab es durchaus deutliche Veränderungen.

Die Wattschnecke Bittium reticulatum ist in den älteren Schichten etwa viel seltener vertreten als heute. "Bittium ist abhängig von der Präsenz von Seegras", erklärt Zuschin. Die Schnecken weiden Algenaufwuchs von den Blättern ab. Vermutlich haben die Zostera-Bestände seit 1700 stark zugenommen. Die Ursachen hierfür sind noch nicht genau geklärt.

Als Nächstes wollen die Forscher das Mollusken-Archiv an weiteren Stellen in der Nordadria anzapfen. Der österreichische Forschungsfonds FWF unterstützt das Projekt finanziell. Die Proben werden in Wassertiefen von bis zu 30 Metern genommen, die Bohrer dringen 1,70 Meter tief in die Sedimente ein, sagt Zuschin. "Wir gehen davon aus, dass wir damit eine Zeitspanne von etwa 1000 Jahren abdecken."

Genaue Altersbestimmung

Bei der Datierung soll es aber nicht bei Schätzungen bleiben. Das Team wird das Alter einiger Schalen und Gehäuse zuerst nach der C14-Methode bestimmen. Die Daten dienen zur Eichung eines zweiten Verfahrens: der Aminosäuren-Racemisierung. Der Ansatz basiert auf der stetigen Umwandlung der Proteinbausteine, der Aminosäuren, von linksdrehenden in rechtsdrehende Varianten. Experten nennen sie die "Eiweißuhr". Je höher die Konzentration rechtsdrehender Moleküle, desto älter das Material. Die Aminosäuren-Racemisierung sei auch wesentlich kostengünstiger als die C14-Datierung, sagt Zuschin. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 3.7.2013)