"Schomrim" (Mitglieder der Haschomer Hatzair) bei einem Ausflug in einem Frühling der Fünfzigerjahre. Die jüdisch-österreichische Organisation feiert dieses Jahr ihr 100-Jahr-Jubiläum.

Foto: Haschomer Hatzair Fotoarchiv

Wien - Es war im Wien der Sechzigerjahre, als Doron Rabinovici sein "heimliches Zauberreich" entdeckte. Überall war er angehalten, artig zu grüßen und ordentlich auszusehen, doch ein Ort existierte für den heute 51-jährigen Schriftsteller und Historiker, an dem alles anders war: beim Haschomer Hatzair.

"In jenen Jahren kamen Astrid Lindgrens Geschichten von Pipi Langstrumpf ins Kino, aber meine Villa Kunterbunt lag in der Storchengasse, und wenn ich auch keine schwedische Pipi war, sondern eher ein schmalpicktes Wiener jüdisches Pipihenderl, hier machten wir uns die Welt, widiwi sie uns gefällt", erinnerte sich Rabinovici kürzlich. Anlass seiner Rede war die Eröffnung der Ausstellung Chawerim Chasak, die zum 100-Jahr-Jubiläum der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung im Wiener Jüdischen Museum zu sehen ist (bis 29. 9.).

Dieses Wochenende wird weitergefeiert: am Samstag bei einem Generationentreffen im Hakoah-Sportzentrum, zu dem zwei Ehemalige, beide 94 Jahre alt, erwartet werden. Am Sonntag kommen rund 600 Gäste aus dem In- und Ausland im Wiener Rathaus zu einem Galaabend mit Vertretern aus Politik und Israelitischer Kultusgemeinde zusammen.

Nur mehr wenige gehen nach Israel

Haschomer Hatzair ist Hebräisch und bedeutet "Der junge Wächter". 1913 wurde die Jugendbewegung im damaligen Galizien gegründet, seit 1916 gibt es eine ständige Niederlassung in Wien. Im Zweiten Weltkrieg waren Mitglieder sehr aktiv im Kampf gegen das nationalsozialistische Regime und beispielsweise maßgeblich am Warschauer Ghettoaufstand beteiligt.

Früher sind viele der Mitglieder irgendwann nach Israel gezogen - mit dem Ziel, in einem Kibbuz ihre Ideale vom jüdischen Staat zu verwirklichen. Heute gehen Schomrim, wie die Mitglieder der Organisation heißen, inzwischen nur mehr selten von Österreich nach Israel. "Heute versuchen wir nicht mehr, die Schomrim davon zu überzeugen, nach Israel zu ziehen, sondern ihre jüdische Identität und das Zugehörigkeitsgefühl zu Israel zu stärken", heißt es auf der Haschomer-Homepage.

Treffen im Nest

Haschomer Hatzair gibt es in 20 Ländern, Liron Rosenblatt ist für den Österreich-Ableger verantwortlich und fungiert als dessen Jugendreferent. Etwa 80 bis 100 Kinder und Jugendliche im Alter von acht bis 18 Jahren treffen sich einmal pro Woche zum Spielen und Diskutieren in der Wiener Niederlassung ("Ken", steht für Nest) am Desider-Friedmann-Platz im 1. Bezirk. Es werden Ausflüge unternommen, zum Beispiel in den Prater, oder - je nach Alter - auch mal über Karl Marx debattiert, wie der 30-Jährige schildert.

Die Älteren leiten die Aktivitäten der Jüngeren. Insgesamt sind derzeit rund 200 Mitglieder in Wien aktiv, in den stärksten Zeiten seien es zwischen 500 und 1000 gewesen. Muss Rosenblatt Neugierigen in aller Kürze erklären, wer oder was Haschomer Hatzair ist, sagt er, die Organisation sei "wie die Pfadfinder, nur mit sozialistischem Gedanken" oder "wie die Roten Falken, aber mit Pfadfindergedanken". 

Jüdischer und österreichischer Kontrast

Doron Rabinovici formulierte es so: "Es wäre verfehlt, uns als jüdische Alpenfexe abzutun, die nur weniger jodelten und mehr jiddelten." Denn: "Unsere Gemeinsamkeit hatte einen anderen Hintergrund, der eben ein jüdischer und ein österreichischer Kontrast war." Die Schomrim tragen auch ein gemeinsames Erkennungszeichen: ein blaues Hemd mit weißem Band im Kragen.

Viele Schomrim bleiben einander ihr Leben lang verbunden. In Freundschaft. Oder, weil aus diesen Bekanntschaften, so sagt Rosenblatt, in der Folge auch schon Ehen entstanden sind. Rosenblatt selbst hat, wie er offen erzählt, seine Verlobte über Haschomer Hatzair kennengelernt.

"Mensch der Wahrheit"

Bei der Organisation gelten zehn Gebote ("Dibrot"). Das erste lautet "Der Schomer ist ein Mensch der Wahrheit und steht auf ihrer Wacht." Rosenblatt erklärt: "Ehrlichkeit ist am wichtigsten - und der Wahrheit treu zu sein." Außerdem gilt, dass "ein Schomer dem Staate Israel verbunden" ist und laut Gebot Nummer Vier soll er "politisch aktiv und ein Vorkämpfer im Streben nach Freiheit, Gleichberechtigung, Frieden und Solidarität" sein.

Zudem soll ein Schomer nicht alles glauben und die Dinge hinterfragen. "Uns wurde eingebläut, kritisch zu bleiben", erinnerte sich auch Rabinovici in seiner Rede - und weiter: "Im Übrigen war unsere Erziehung eine einzige Verführung. Wir wurden angehalten, ungehalten zu sein." (Gudrun Springer, DER STANDARD, 29.6.2013)