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Unheimliches Objekt: Spinnen und anderes kreuchendes und fleuchendes Getier sind am häufigsten Auslöser ekelgesteuerter Phobien.

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Anne Schienle beschäftigt sich seit Jahren mit Ekel.

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Maden, Exkremente, Blut, Erbrochenes, verweste Tiere, Spinnen, Schlangen und anderes kreuchendes und fleuchendes Getier: Wer allein beim Gedanken an diese Bilder die Nase rümpft, die Oberlippe hoch- und die Mundwinkel nach unten zieht, die Augen zusammenkneift und vielleicht auch noch die Zunge leicht rausstreckt, handelt vollkommen normal.

Die zugrunde liegende Emotion heißt Ekel und ruft in allen Kulturen denselben Gesichtsausdruck hervor. Und auch im Gehirn werden beim Anblick ekeliger Dinge charakteristische Regionen aktiviert. "Besonders der insuläre Kortex, und darin der gustatorische Kortex, der auch für die innere Körperwahrnehmung zuständig ist, ist bei Ekelgefühlen aktiv", sagt Anne Schienle, Leiterin der Abteilung Klinische Psychologie der Karl-Franzens-Universität Graz. Schienle erforscht seit Jahren, was sich im Gehirn abspielt, wenn die Abscheu krankhafte Ausmaße annimmt, und welche Therapien dagegen wirksam sind.

In einer Studie, die demnächst im Fachjournal Social, Cognitive and Affective Neuroscience erscheint, konnten Schienle und ihr Team kürzlich zeigen, dass der Schlüssel zur Überwindung von Ekel ebenfalls im Gehirn sitzt. 34 Frauen, die sich selbst als überdurchschnittlich ekelempfindlich bezeichneten, wurden in einer ersten Runde abstoßende Bilder vorgesetzt, während ihre Gehirntätigkeit mithilfe funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) aufgezeichnet wurde.

Im zweiten Teil der Studie wurde den Probandinnen gesagt, dass sie Testpersonen für Angostura seien - ein altes südamerikanisches Heilmittel, das aus der Rinde des Angostura-Baums gewonnen wird und für seine Wirkung gegen Ekelsymptome wie Übelkeit und Erbrechen bekannt ist. Dann wurden ihnen die gleichen Bilder wie zuvor gezeigt.

Visuelle Veränderung

Tatsächlich enthielten die Pillen Kieselerde - also ein Placebo. "Die Veränderungen im Gehirn waren ganz erstaunlich", sagt Anne Schienle. " Was das subjektive Empfinden betrifft, hat sich der Ekel mehr als halbiert. Aber auch die Aktivität in der Insula hat signifikant abgenommen." Genauere Analysen hätten zudem gezeigt, dass der Placeboeffekt zusätzlich auf die frühe visuelle Verarbeitung wirkt, also dort, wo Reizeigenschaften wie Farbe und Form dekodiert werden. "Einfach gesagt: Die Leute sehen durch den Placeboeffekt tatsächlich etwas anderes", schließt Schienle.

Zum Vergleich wurden die Probandinnen auch mit angstauslösenden Bildern, etwa Waffen und Überfälle, konfrontiert. Dabei wurde klar: Das Placebo wirkte tatsächlich eher bei den Ekelbildern. "Der Placeboeffekt ist viel spezifischer, als man bisher angenommen hat", sagt die Psychologin. "Im Schmerzbereich ist er schon gut erforscht, die Studie zeigt aber, dass er auch bei der unbewussten Regulierung von Emotionen viel breiter eingesetzt werden kann."

Als die Studienteilnehmerinnen aufgeklärt wurden, waren sie nicht nur überrascht, sondern auch stolz, ihre Abscheu ein wenig überwunden zu haben. "Ziel ist es, mithilfe von Placebos und positiver Suggestion versteckte Selbstheilungskräfte zu aktivieren, um positive Therapieveränderungen anzustoßen."

In einem nächsten Schritt soll der Placeboeffekt bei Patienten erprobt werden, bei denen übermäßiger Ekel im Rahmen von Zwangsstörungen auftritt. "Menschen mit Waschzwängen etwa sind relativ resistent gegen Therapien, die darauf abzielen, jene Reize, die Störungen auslösen, anders zu sehen und zu bewerten", erklärt Schienle. "Es hilft also meistens wenig, zu sagen, dass es nicht gefährlich ist, eine Türklinke anzugreifen", erklärt Schienle. Überprüft werden soll auch, welche Auswirkungen es hat, in welchem Kontext das Placebo eingenommen wird. " Wir haben gesehen, dass allein die Anwesenheit eines Arztes in einem weißen Kittel schon einen Effekt hat."

Etwas als widerwärtig, abstoßend und einfach nur ekelhaft zu empfinden, ist an sich eine durchaus sinnvolle Reaktion. Denn sie wird vor allem von Dingen hervorgerufen, die Krankheiten verursachen können, seien es nun Wunden, Tiere, die Parasiten tragen könnten, oder Verdorbenes. Während Angst vor sichtbaren Gefahren schützt, warnt Ekel vor unsichtbaren Bedrohungen durch Bakterien, Viren und anderen Mikroorganismen. "Ekel geht darauf zurück, giftige Nahrung auszuspucken und sich davon zu distanzieren", sagt Anne Schienle.

Warum manche Menschen besonders empfindlich auf Ekliges reagieren, ist noch weitgehend unbekannt. Manchmal sind traumatische Erlebnisse die Ursache: "Eine Patientin entwickelte einen Waschzwang, nachdem sie ihre bettlägerige Mutter gepflegt hatte", erzählt Schienle. Ekel spielt auch eine Rolle bei Essstörungen und bei Patienten mit Borderline- Persönlichkeitsstörung, die den Ekel oft auf sich selbst richten.

Am häufigsten sind ekelgesteuerte Phobien vor bestimmten Tieren, allen voran Spinnen, sowie extremer Ekel vor Blut und Verletzungen. Dabei kommt es nicht selten zu starken körperlichen Reaktionen wie Schweißausbrüchen, Übelkeit, Brechreiz bis hin zu Panik und Ohnmacht. Ein übersteuertes Ekelempfinden dürfte auch vererbbar sein. Studien mit Spinnenphobikern hätten eine vergleichbare Ekelsensitivität bei betroffenen Kindern und deren Müttern ergeben, sagt die Forscherin.

Ausgeprägter Ekel ist offenbar Frauensache: "Etwa 15 Prozent der Frauen haben eine spezifische Phobie. Bei Spinnen kommt auf neun Frauen ein Mann - obwohl mir noch kein männlicher Spinnenphobiker untergekommen ist" , sagt Schienle. Das könnte daran liegen, dass Frauen einfach bereitwilliger ihre negativen Gefühle artikulieren. Bei Hirnscans waren die Unterschiede nämlich gar nicht groß, wie Schienle berichtet.

Spinnen, Schnecken, Blut

Noch gibt es viele Unbekannte in dem lange vernachlässigten Feld der Ekelforschung. Bis vor zehn Jahren gab es kaum Untersuchungen dazu, und auch heute noch dominieren Studien zu Angst. Oft sind die Grenzen fließend. "Bei Spinnenphobikern gibt es eine Untergruppe, die Angst hat, gebissen zu werden, und eine, der vor dem Tier einfach graust", sagt Schienle.

Eine Therapie wird nötig, wenn sich der Ekel kaum noch kontrollieren lässt und zu Einschränkungen im Alltag führt - also Blutphobiker nicht mehr zum Arzt gehen oder ein Kind aus Abscheu vor Nacktschnecken sich bei Regen nicht mehr aus dem Haus wagt.

Bei Spinnen, Schnecken und anderen Tieren hat es sich bewährt, die Betroffenen ihren Phobien auszusetzen, indem sie die Tiere einfangen, vor die Tür setzen und so Kontrolle erleben. Bei komplexen Zwangsstörungen könnte nun der Placeboeffekt - neben den Standardtherapien - eine zusätzliche Erleichterung bringen. (Karin Krichmayr, DER STANDARD, 26.6.2013)