Das Žalgiris-Stadion und der Sportpalast in der Hauptstadt Vilnius erinnern an die wechselvolle Geschichte des baltischen Landes

Vilnius, Litauen. Gleich hinter dem Kathedralenplatz am Rande der herrlichen Altstadt: die Mindaugas-Brücke über den Fluss Neris, am Horizont ein Flutlichtmast alter Schule. Er gehört zum Žalgirio stadionas, dem Žalgiris-Stadion, das nach zweijähriger Bauzeit 1950 eröffnet wurde. Für die Arbeiten waren deutsche Kriegsgefangene herangezogen worden.

Foto: Michael Robausch

Wenig verwunderlich, dass sich die architektonische Gestaltung an den Gepflogenheiten zu Zeiten der Sozialistischen Sowjetrepublik Litauen (1940 bis 1990) orientierte. Schon in der polnischen Zeit (von 1920 bis 1939 waren Stadt und Region Vilnius Teil der zweiten polnischen Republik) existierte im Bezirk Žirmūnai ein Stadion, das damals vom Militärsportklub Pogoń Wilno genützt wurde. 1924 wurden zwei Tribünen errichtet, die zu den größten ihrer Art im damaligen Polen zählten. 1936 fanden hier die nationalen Leichtathletik-Meisterschaften statt.

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Es waren jedoch die Sowjets, die für das Neubau-Projekt nach Plänen des russischen Architekten Wiktor Anikin den größten jüdischen Friedhof von Vilnius zerstörten, der seit dem 15. Jahrhundert an dieser Stelle bestanden hatte. Eine weitere barbarische Episode, welche der bereits erfolgten, weitestgehenden Auslöschung der litauischen Judenheit durch die Nazis und deren willige einheimische Helfershelfer, nach Kriegsende noch folgen sollte. Man geschätzt, dass von 210.000 jüdischen Menschen in Litauen 196.000 den Mördern zum Opfer fielen - die meisten davon innerhalb von nur sieben Monaten, zwischen Juni und Dezember 1941.

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Mit einem Fassungsvermögen von 15,029 Zuschauern war der Neubau die größte Sportarena Litauens - und ist es bis heute geblieben. Zunächst hieß der Komplex Spartak-Stadion und wurde zur Heimstätte eines litauischen Fußballklubs gleichen Namens. 1961 benannte man das Team in Žalgiris um und auch das Stadion erhielt diesen neuen Namen. Er verweist auf ein wichtiges Ereignis in der litauischen Geschichte, die Žalgirio mūšis. In jener Auseinandersetzung (Schlacht von Tannenberg für die Deutschen, Schlacht von Grunwald für die Polen) besiegte im Jahr 1410 das vereinigte Aufgebot von Polen und Litauern das Heer des Deutschen Ordens und leitete damit dessen Niedergang als Machtfaktor im Baltikum ein.

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Das Stadion erfuhr im Lauf der Zeit punktuell Nachrüstungen. 1966 wurde etwa eine Anzeigetafel aus Ungarn installiert - seinerzeit offenbar der letzte technologische Schrei. Sie steht immer noch an ihrem Platz. Die 1995 anlässlich eines EM-Qualifikationsspiel der Fußballnationalmannschaft der nunmehr wieder souveränen Republik Litauen (aktuell Nummer 41 der UEFA-Rangliste) gegen Italien registrierte Rekordkulisse von 15.000 Besuchern wird wohl nie mehr überboten: die Kapazität des alten Kastens wurde seither nämlich um mehr als die Hälfte reduziert. Seinen Rang als Nationalstadion hat er mittlerweile ohnehin an modernere Spielstätten verloren. Heute befindet sich das Stadion in einem Zustand fortgeschrittener Verwahrlosung und es ist kaum glaublich, dass es noch bis 2012 vom REO Vilnius genutzt wurde, einem vorübergehenden Erstligisten, der unterdessen in der Pleite verschwunden ist. Žalgiris war schon im Jahr 2010 ausgezogen.

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Nur eine moderate Parkplatzbreite vom Stadionas entfernt, ein weiterer Saurier aus einer vergangenen Epoche: der Konzert- und Sportpalast (Koncertu ir Sporto rumai), 1971 vollendet und mit 7,5 Millionen Rubel sieben Mal so teuer wie ursprünglich veranlagt. Auch dieses Gebäude steht mitten auf dem Gelände des Friedhofs, an den mittlerweile immerhin eine Gedenktafel erinnert.

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Neben der Veranstaltung von Musischem wurden in dem markanten Gebäude des Architekten Eduardas Chlomauskas vor allem Basketball- und Volleyball-Matches gespielt. Es ist ein sehenswertes Beispiel der Sowjetmoderne, ausgeführt im Stil des Brutalismus, dessen Bezeichnung sich von dem offen zur Schau gestellten Baumaterial ableitet, wobei sich Beton höchster Beliebtheit erfreute (béton brut). Zusätzlich zu dieser Roheit ebenfalls typische Stilelemente: eine unverstellte geometrische Körpersprache und die nach außen hin freigelegte Funktion des Gebäudes.

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Im Oktober 1988 fand im Sportpalast die Gründungskonferenz von Sajudis ("Bewegung") statt, einer politischen Gruppierung, die federführend die friedliche Loslösung Litauens von der UdSSR betrieb und rasch immense Popularität erlangte. Im Jänner 1991 war er Schauplatz der Trauerfeierlichkeiten für die Opfer des Vilniusser Blutsonntag (Sausio įvykiai): 14 Menschen waren ums Leben gekommen, als sie Parlament und Fernsehturm gegen pro-sowjetische Truppen verteidigten. Auch mehr als 1000 Verletzte waren zu beklagen.

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Im unabhängigen Litauen verkam der Palast zu einer Einkaufspassage, auch Jahrmärkte und Messen wurden nun dort abgehalten. Wie auch das Stadion hat er - als Symbol des sowjetischen Vilnius und damit auch der düsteren Zeit der Unterdrückung - bei den Einwohnern der Hauptstadt einen schweren Stand. Zusätzlich zur mangelhaften Bausubstanz, setzt die in dieser emotionalen Distanz begründete Zurückhaltung hinsichtlich ihrer Instandhaltung, den beiden Sportstätten schwer zu. Irgendetwas wird aber wohl passieren müssen, denn 2006 wurde zumindest der Kultur- und Sportpalast unter Denkmalschutz gestellt. Umbaupläne für das Žalgirio gibt es schon seit 2005, nichts davon ist bisher umgesetzt worden. (Michael Robausch - derStandard.at 26.6. 2013)


 
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