Idioten sind - so die alten Griechen - diejenigen, die sich ihrem Privatleben widmen, ohne sich dabei um die allgemeinen Angelegenheiten der politischen Gemeinschaft, in der sie leben, zu kümmern. Heute, in einer Zeit, in der wir uns alle als politische Wesen verstehen möchten - zumindest aber von den Berufspolitikern dazu aufgefordert werden, uns als solche anzusehen - scheinen die klassischen Epochen der Idiotie endgültig vorüber. Bei immer mehr, und gerade unmaßgeblichen Gelegenheiten, ist unsere Meinung gefragt und werden Wahlen inszeniert - man denke nur an die boomenden Volksbefragungen. Kurzum, wir feiern, ja zelebrieren, eine Demokratiekultur, in der ein jeder am öffentlichen politischen Leben teilhaben kann und soll.

Sämtliche demokratisch zu lösende Probleme scheinen dadurch, wenn schon nicht gelöst, so doch einer alle einbeziehenden Lösung zugeführt. Der rechte Weg zu einer Selbstregierung des Volkes sei damit - so meint man - bereits gefunden. Der einzig emanzipatorisch zu optimierende Problembereich wäre dann bloß noch die Frage nach mehr oder weniger direkter Demokratie - und diese wird ohnehin häufig als die Lösung sämtlicher politischer Probleme verherrlicht.

Ist dem aber wirklich so? Geht es nur mehr um die Beseitigung von undemokratischen Altlasten, von Amtsmissbrauch, Korruption und anderen " Auswüchsen"? Geht es nur mehr darum, die bereits gefundene politische Lösung für unser Zusammenleben, die Demokratie, zu "reinigen", um damit deren Segnungen vollauf zur Geltung bringen zu können? - Oder reichen die Probleme nicht tiefer, liegt nicht heute mehr denn je ein grundsätzliches Missverständnis (und das heißt auch ein Selbstmissverständnis!) von Politik und Demokratie vor? Und beruht dieses Missverständnis nicht auf einer Fehlkonzeption der Persönlichkeitsstruktur, die hier vonseiten der Amtspolitik den Einzelnen unterstellt wird (und damit jedes mündige Politikverhalten von vornherein unterläuft). Diese These gilt es zu prüfen.

Zum einen hat uns die neoliberale Betriebswirtschaft seit Jahrzehnten gelehrt, dem privaten Vorteil nachzujagen, um damit der Gesamtgesellschaft - auf indirektem Wege - Gutes zu tun. Sie hat uns gelehrt, die Reflexionen über unser (die Politik bestimmendes) Wirtschaftssystem gerade nur soweit zu treiben, um zu erkennen, dass wir uns um dessen systemisches Funktionieren (und seine Rahmenbedingungen) keine Sorgen zu machen hätten - ja dass wir uns von systemischen Überlegungen gar nicht bekümmern lassen dürften, ohne das System (und seine Selbstreinigungskraft) grundlegend zu gefährden.

Übertragen auf das Politische hieße das dann etwa: "Mach dir keine Gedanken über das bestmögliche Funktionieren einer Gesellschaft, es könnte ihr bloß - und das nicht nur wirtschaftlich - schaden. Betreibe vielmehr dein persönliches Streben nach Glück, dein ganz privates pursuit of happiness. Dessen Durchsetzung darfst du dann von der Gemeinschaft, von den dich dabei behindernden Anderen (mit denen du ja immer im Wettbewerb stehst), politisch einfordern - oder, wenn rechtlich schon geregelt, auch einklagen ..."

Zum anderen zeigt sich ein derart reduziertes Politikverständnis auch an der, gewiss gut gemeinten (aber alles andere als guten) Sozialpolitik von diversen sozialdemokratischen und grünalternativen Gruppierungen, welche auf eine autoritäre Befürsorgungspolitik hinausläuft. Als Leitfigur dieser Entmündigungspolitik mag hier "der kleine Mann auf der Straße" gelten, für den Politik gemacht werden soll. Mit anderen Worten heißt das dann wieder: "Mach dir keine Sorgen über das gesellschaftliche System (an dem du Anteil nimmst und als dessen Teil du dich selbst sehen sollst) - Hauptsache, es wird alles für dich und deine Interessen - und das sind naturgemäß Privatinteressen - bestens geregelt ..."

Beide Konzeptionen moderner Idiotie, die des wirtschaftlich eigeninitiativen Unternehmers und die des befürsorgten kleinen Mannes, entsprechen einander und beruhen letztlich auf einer Verleugnung des Politischen als die wesensbestimmende Kategorie des Menschen (wie sie die alten Griechen der von ihnen erfundenen Demokratie zugrunde gelegt hatten).

Nun ist es klar, dass ein moderner Unternehmer Kraft seines Erfolgsstrebens allen demokratischen (Stör-)Impulsen reserviert gegenüberstehen wird. Er hat es auch gar nicht nötig, sich politisch zu engagieren. Das Wirtschaften allein ist schon der Königsweg zu politischer Macht. - Wie aber sieht es für den kleinen Mann aus, der eine demokratische Politik - und sei es auch nur in Form eines politischen Ausgleiches - bitter nötig hat? Kann man ihm politische Eigeninitiative zumuten? Und wird er dann nicht, sollte er überhaupt dazu fähig sein, das ganze Wirtschaftssystem aus eigener Kurzsichtigkeit gefährden?

Natürlich sind derartige Befürchtungen nicht unbegründet, allerdings nur dann, wenn man dem kleinen Mann eine subhumane Persönlichkeitsstruktur unterstellt und ihn sein Leben lang als ein subhumanes Individuum behandelt.

Mikronormierungswahn

Hat man derart die Menschen von reflexionsfähigen Selbst- und Fremdbeobachtern (und seien diese noch so einfach!) zu bedürfnisbefriedigenden Regelbefolgern erniedrigt, so muss man auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen ein möglichst dichtes Netz von Regeln knüpfen, um quasi alle diese Beziehungsmöglichkeiten im Detail erfassen zu können und um deren missbräuchlichem Ausleben vorzubeugen.

Derzeit zeigen sich diese, vor allem von wohlmeinender Fürsorglichkeit getragenen Mikronormierungstendenzen an den ausufernden Prohibitionsmaßnahmen gegenüber dem Rauchwaren- und Alkoholkonsum. Sie sind aber auch, darüber hinaus, in anderen Bereichen des sogenannten individuellen Risikoverhaltens zu entdecken und können an dem beginnenden Bonus-Malus-System des Gesundheitswesens abgelesen werden. Im Schatten der Fürsorglichkeit verbirgt sich hier eine neue Form des biopolitischen Autoritarismus..

Das hat auch der Philosoph Pfaller (siehe Standard 15./16.6.2013) deutlich gemacht. Er hat gezeigt, dass es sich bei diesen (ebenso normierenden wie regulierenden) Eingriffen in das private und das öffentliche (!) Leben der Einzelnen um eine Alibi- oder Pseudopolitik handelt. Das aber betrifft keineswegs nur den Bereich der Verbote, es betrifft und "motiviert" auch das Positive - das, was wir tun sollen. Um den über die "Sachzwänge" politisch Entmündigten (und das sind wir letztlich alle) so etwas wie eine persönliche politische Kompetenz vorzugaukeln, werden beispielsweise die Einzelnen dazu ermuntert, in ihren (möglichst freakhaften) privaten Marotten öffentlich aufzutreten, um dabei Wahlen und Rankings in Castingshows und in diversen Internetforen für sich zu entscheiden.

Damit soll offenbar den, gegenüber dem Meinungsbildungsprozess vorrangig erachteten, demokratischen Wahl- und Entscheidungsbedürfnissen Genüge getan werden: Hier werde - so meint man - Öffentlichkeit und Abstimmung, hier werde Demokratie geübt. - Der altlinke Spruch: "Das Private ist politisch" wird so auf eine paradoxe Weise ernst genommen und zelebriert. Er gewinnt damit einen gänzlich neuen, einen pervers- politischen Charakter: den der pseudopolitischen Idiotie. (Peter Moeschl, DER STANDARD, 22./23.6.2013)