Mit dem überragenden Erfolg ihrer Literaturessays gewann die US- Amerikanerin Susan Sontag (1933-2004) der Theorie ein Stück Glaubwürdigkeit zurück. In den frühen 1960er-Jahren war der Kunst die Unbefangenheit gründlich ausgetrieben worden. Die Strukturalisten bauten Kettensysteme, deren Glieder sich bloß geringfügig voneinander unterschieden. Das Walten des Unbewussten strafte die sinnliche Erscheinung der Kunstwerke Lügen. Gelehrte wie der Pariser Jacques Lacan stellten die Zirkulation der Sprachzeichen unter das Gesetz des "Vaters". Vatergestalten entschieden, wie man den Sinn von Kunstwerken aufzufassen hatte.

Da erschien eine junge Frau auf der Szene mit einem Aufsatz, den sie frech mit Gegen Interpretation (1964) übertitelt hatte. Bereits der erste Satz dieser folgenreichen Schrift war ein frecher Vorstoß: "Das früheste Erlebnis der Kunst muss ihr Erlebnis als Mittel der Beschwörung, der Magie gewesen sein; die Kunst war ein Instrument des Rituals." Den Begriff Erlebnis hatte Susan Sontag ganz bewusst kursiv gesetzt. Kunst, auch die vertrackteste und modernste, war wieder zu einem Thema geworden, das ausdrücklich alle anging. Sontags Essay glich der Wiederaneignung eines von Kritik und Wissenschaft veruntreuten Gegenstands. Von nun an entschied wieder der Endverbraucher, was er von dem jeweils genossenen Werk zu halten habe.

"Interpretation" wurde von Sontag als Praxis des Spießers entlarvt. Der literarische Interpret will dem Text die Preisgabe eines Sinns abtrotzen, den der unter der "äußeren" Form der Arbeit versteckt.

Die Trennung von Form und Inhalt ist mutwillig. Sie unterschlägt gerade dasjenige, was den Gehalt eines Kunstwerkes ausmacht. Weder bildet die Form eine Hinzufügung, noch erschöpft sich die Aussage in einer Botschaft mit moralischer Nutzanwendung. Sontags Ausflug in die Welt der Theorie blieb nicht unwidersprochen. Bis heute unverändert aktuell bleibt ihre grundlegende Intuition: Interpretation kann zumeist als Akt der Aggression aufgefasst werden, der sich gegen die sinnliche Wahrnehmung eines Kunstgegenstandes richtet. Andererseits ersetzt die "liebevolle Beschreibung der äußeren Erscheinungsform eines Kunstwerks" nicht die Analyse der dem Werk zugrunde liegenden Struktur.

Dem Kern der Sache nähert sich Susan Sontag in einer Einsicht, die Nietzsches würdig gewesen wäre. Kunstwerke bewahren die Erinnerung an eine Form des Wollens auf. Sie tun dies in "bereinigter" Form. Kunst schafft Distanz. Durch die Praxis der Ruhigstellung bildet die Abstandnahme von der Welt nichts anderes als eine privilegierte - und besonders genussreiche - Form der Begegnung mit ihr. Susan Sontag wurde nicht müde, sich die moderne Kultur anzueignen. In den Essays von Kunst und Antikunst war sie dem schwarzen Geheimnis der Avantgarde auf der Spur. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 21.6.2013)