Ein Atemzug, ein Strich.

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Einen Streber gibt es immer. Es hat gefühlte 40 Grad draußen, aber im Hörsaal ist es schön klimatisiert. Trotzdem sind statt wie zu Semesterbeginn 100 nur mehr 22 Studis zu dieser Vorlesung gekommen. Einer schläft mit dem Kopf auf dem Skriptum. Nur der Streber ist hellwach und lässt keine Gelegenheit aus, durch eine Zwischenfrage, deren Antwort er schon weiß, seine Intelligenz zu beweisen.

Wenn er aufzeigt, hat er den rechten Mittel- und Zeigefinger akkurat zusammengepresst wie Häschenohren und kippt fast vornüber vor lauter Eifer. Alle anderen rollen genervt die Augen. Das hat sich also nicht geändert in den letzten 20 Jahren. Der Vortragende ist amüsiert und gibt dem Streber recht. Manchmal lässt er ihn auflaufen.

Was mich betrifft, zeigt sich: Bei guten Lehrern kann man auch lernen, wofür man nicht so talentiert ist. Leichter ist es zu lernen, wofür man talentiert ist.

Nach diesen ersten beiden Semestern an der Informatik weiß ich, dass ich nicht zu Unrecht Germanistik, Philosophie und Geschichte studiert habe. Ich habe mich nicht geirrt bei meiner damaligen Studienwahl, weil ich meinem vorrangigen Interesse gefolgt bin ohne Rücksicht auf etwaige Jobaussichten. Das würde ich nach meinen jetzigen Erfahrungen auch jedem Studienanfänger empfehlen. Qualität entsteht, wo Leidenschaft ist.

Bevor jetzt alle geschätzten Neider höhnisch aufkreischen - das soll nicht heißen, dass man sich nicht an einer Materie versuchen kann, die einem nicht schon in die Wiege gelegt wurde. Im Gegenteil. Einst belegte ich aus ehrlichem Interesse, andere mögen es Jux und Tollerei nennen, an der Sinologie einen Kalligrafiekurs. Es war die Neugier auf die Unverständlichkeit der Zeichen, die mich antrieb - und mich vielleicht auch jetzt an die Informatik gelockt hat. Etwas anzugehen, von dem ich keine Ahnung habe, hat mich immer schon gereizt.

Jedenfalls, im Kalligrafiekurs übten wir mit Pinsel und Tusche auf den Seiten von Telefonbüchern. Für diejenigen, die sich darunter nichts vorstellen können: Das waren zentnerschwere Bücher mit gelben Einbänden, in denen die Nummern von Festnetztelefonanschlüssen (sic!) standen. Der Meister, ein weiser Asiate, war der Meinung, dass anderes Papier zu Schade für unsere unbeholfenen Krakeleien war. Recht hatte er.

Ein Atemzug, ein Strich, war die Regel, und immer schön beide Füße auf dem Boden lassen. Das hat mir später in vielen Situationen auch abseits der Uni sehr geholfen. Am Semesterende schrieb der Meister für jeden von uns eigenhändig unseren Namen auf eine sehr schöne Rolle feinsten Papiers. Das war eine große Ehre und ein besonderes Geschenk. Bei der Übergabe sagte er zu jedem Schüler ein paar Worte, die mehr zählten als jedes Zeugnis. Zu mir sagte er: "Sie, Frau Paal, sind meine beste Schülerin. So wenig Talent, und immer wieder kommen." (Tanja Paar, derStandard.at, 20.6.2013)