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Ein distanziertes bis kaltes Verhältnis herrschte in den 50er- bis 70er-Jahren laut einer Studie zwischen Pflegeeltern und Pflegekindern. Die Stadt Wien hatte die Untersuchung in Auftrag gegeben.

Foto: © Bill Binzen/CORBIS

Wien – Die Missstände, die in Wiener Kinderheimen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschten, haben inzwischen viel Aufsehen erregt. Was bislang aber kaum Beachtung fand, waren die Lebensumstände der in Familienverbänden lebenden Pflegekinder in dieser Zeit. Eine am Mittwoch präsentierte qualitative Studie der Fachhochschule FH Campus Wien ("Lebenswelten der Pflegekinder in der Wiener Nachkriegszeit 1955 - 1970") zeichnet eine Woche nach Präsentation des Wilhelminenberg-Heimberichts auch hier ein Bild von Gewalt und Ausbeutung.

Die Stadt Wien hatte die Untersuchung beim Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit in Auftrag gegeben. Dessen Resümee: Oft waren die Kinder Missbrauch und Schlägen ausgesetzt, lebten in sozialer Isolation und wurden, vor allem am Land, als Arbeitskraft ausgebeutet. Diese Umstände beschrieben 15 ehemalige Pflegekinder, zehn Frauen und fünf Männer, in seit Herbst 2012 geführten Interviews. Zusätzlich fanden drei Gespräche mit früheren Fürsorgerinnen statt.

Ziel der Studie sei gewesen, Alltagserfahrungen zu beschreiben und Betroffenen eine Stimme zu geben. Sachverhalte zu prüfen und Täter auszuforschen sei hingegen keine Vorgabe gewesen. Studienleiterin Elisabeth Raab-Steiner wies auch darauf hin, dass seit dem Untersuchungszeitraum wesentliche Maßnahmen zur Verbesserung des Pflegekinderwesens gesetzt worden seien.

Viele Pflegeeltern am Land

Die Pflegekinder der Nachkriegszeit lebten teils bei Familien in Wien, teil bei Familien am Land – hier insbesondere im Südburgenland und der Südsteiermark. Wobei die Unterbringung wegen zu wenig Pflegeeltern in Wien in den Bundesländern stetig zunahm: Von 379 Kindern 1958 auf 1276 Kinder im Jahr 1969, berichtete Raab-Steiner. Die Pflegefamilien gehörten in Wien meist der unteren Mittel- oder der Arbeiterschicht an, im ländlichen Bereich ärmeren Teilen der Bauernschaft. Manchmal wurden bis zu zehn Schützlinge aufgenommen – als Arbeitskraft und wegen des finanziellen Beitrags, den Pflegeeltern von der Stadt dafür erhielten.

Oft kam es zur körperlichen Überbeanspruchung und zu Verletzungen. Die Schule war hintangestellt, die Beziehung zur Familie von Kälte und Härte geprägt: "Hiebe statt Liebe. Ich könnte mich nie erinnern, dass uns die Mutter einmal in den Arm genommen hätte oder getröstet", hieß es in einer der Schilderungen.

Die Pflege zielte laut Studienmitarbeiterin Gudrun Wolfgruber auf die Mindestbedürfnisse Essen, Schlafen und Hygiene ab, in der Stadt auch auf Schulbildung. Die Pflegekinder waren oft physischem, psychischem und sexuellem Missbrauch ausgesetzt. Täter seien Elternteile, ältere Geschwister, Bekannte oder Verwandte gewesen. "Man kann aus allen Interviews rauslesen, egal ob die Kinder am Land oder in der Stadt untergebracht waren, dass es zu Gewalterfahrungen kam", berichtete Wolfgruber. Sie umfassten neben Demütigungen auch Schläge und Verletzungen mit Arbeitsgeräten oder Gurten. Die Gewalt übte je nach Familiensituation etwa der alkoholkranke Vater oder auch ältere leibliche Kinder aus.

Die Aufsicht oblag der Kinderübernahmestelle der Stadt Wien und den Fürsorgeämtern. Ein Großteil der Interviewpartner hat bis heute mit Folgen der Vergangenheit zu kämpfen. Ein "glückliches Familienleben" hätten die meisten auch als Erwachsene nicht erlebt.

Der Bericht wird laut Jugendstadtrat Christian Oxonitsch (SP) von einer Arbeitsgruppe der MA 11 (Jugend und Familie) und städtischen Kontrollinstanzen durchgearbeitet. Die FP forderte eine Gedenkveranstaltung für "tausende (...) gepeinigte Wiener Kinder und Jugendliche" in Pflege und in Heimen. Von VP-Seite hieß es, die Studie sei oberflächlich und eine Alibi-Aktion. (APA, spri/DER STANDARD, 20.6.2013)