Colin Crouch ist ein Intellektueller, der politischen Einfluss erreicht hat. Der britische Politologieprofessor lieferte 2004 mit seinem Bestseller Postdemokratie die Grundlage für die Kapitalismuskritik in Europa und den USA:

Internationale Konzerne und besonders die (US-)Finanzindustrie hätten das Modell des Neoliberalismus so erfolgreich durchgedrückt, dass demokratische Wahlen zwar noch stattfinden, in Wahrheit aber die Interessen der Konzerne das Handeln der Regierenden bestimmen. In einem zweiten Buch (Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus - 2011) wies er auf die Tatsache hin, dass die Finanzkrise keineswegs tödlich für die Turbokapitalisten war. Weil zum Beispiel die Großbanken (und ihre Sparer) als "systemrelevant" eingestuft wurden, ließen die Staaten sie nicht pleitegehen. Die Marktfundamentalisten haben sich "vom Markt emanzipiert" (Crouch).

Colin Crouch war jetzt in Österreich zugegen und stellte sein neues Buch vor (Jenseits des Neoliberalismus, auf Deutsch im Passagen-Verlag), dessen zentrale These lautet, dass nur eine - reformierte - Sozialdemokratie den Neoliberalismus überwinden kann.

Crouch ist Brite, bezieht sich vor allem auf den angelsächsischen Raum und dessen Verhältnisse. Das schränkt die Allgemeingültigkeit seiner Thesen etwas ein, denn in Kontinentaleuropa und schon gar in Österreich ist der Neoliberalismus viel, viel schwächer. Obwohl hierzulande die Linke, der ÖGB, die SPÖ, Attac usw. jeden marktwirtschaftlichen Ansatz erfolgreich als "neoliberal" denunzieren, ist Österreich alles andere als ein Reich des schrankenlosen Marktes. Wir haben (noch immer) einen hohen Verstaatlichungsgrad, hohe Steuern, einen breit ausgebauten Sozialstaat, massive Umverteilung (und daher Gleichheit bei den Einkommen), starke Gewerkschaften und ein System ausbalancierter Interessengruppen. Österreich ist nicht "neoliberal", sondern ein durchregulierter Ständestaat. mit marktwirtschaftlichen Elementen. Wobei eine gewisse Verschärfung der marktwirtschaftlichen Logik und damit des (Personal-)Kostendrückens nicht zu leugnen ist (in der Privatwirtschaft, nicht im öffentlichen Sektor).

Crouch ist jedoch recht zu geben, wenn er es für notwendig hält, dass ganz generell den (oft unverantwortlichen) Konzernen wieder Macht entrissen wird. Wobei die traditionelle Linke nicht zufrieden sein wird mit seinem Nicht-Fundamentalismus. Er hält den Kapitalismus für jenes System, das den meisten Wohlstand erzeugt, und spitzt seine These auf den Slogan zu: "Soll der Markt für uns arbeiten? Ja! Soll er uns tyrannisieren? Nein!".

Dass (nur) die europäische Sozialdemokratie die notwendige Wiederherstellung eines Kräftegleichgewichts zwischen entfesseltem Kapitalismus und einer sozialen Marktwirtschaft schaffen kann, ist für Colin Crouch eine "Hoffnung". Wer etwa nach Frankreich blickt, wo François Hollande mit altsozialistischen Rezepten die Wirtschaft an die Wand fährt, muss skeptisch sein. Crouch ist in der brillanten Diagnose stärker als in der ausformulierten Therapie. (Hans Rauscher, DER STANDARD, 19.6.2013)