Kompromisse sind unentbehrlich, im Leben wie in Politik; doch geraten sie - vor allem in der turbulenten Geschichte des Balkans - sehr schnell in ein schiefes Licht. Deshalb verdient das, was sich am Sonntag bei dem von Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll initiierten 18. Europa-Forum Wachau in Göttweig abgespielt hat, eine besondere Beachtung. Zum ersten Mal traten im Benediktinerstift die Ministerpräsidenten Serbiens und des Kosovo, also von zwei Staaten, die noch vor kurzem als Erzfeinde galten, internationalen zusammen auf. Sie reichten einander nicht nur die Hand, sondern saßen beim Mittagessen auf Einladung des österreichischen Gastgebers, Außenminister Spindeleggers, stundenlang im angeregten Gespräch zusammen (geführt zum Teil mit Hilfe einer Dolmetscherin auf Englisch!), und in zunehmend lockerer Stimmung stießen sie sogar aufeinander und wohl symbolisch auch auf das Gelingen des von der EU vermittelten Projekts zur Entschärfung des Kosovo-Konflikts an.

Nicht nur der öffentliche Handschlag und die Reden der beiden Regierungschefs, sondern auch informelle Gespräche mit Ivica Dacic und Hashim Thaci haben mich überzeugt, dass zum ersten Mal seit der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, der einstigen südserbischen Provinz, im Februar 2008 echte Chancen auf eine Wende am Balkan bestehen. Es geht natürlich nicht darum, dass der kosovarische Freischärlerkommandant im Jugoslawienkrieg mit einer umstrittenen Vergangenheit und der mit allen Wassern gewaschene langjährige Sprecher des unseligen serbischen Bösewichts Slobodan Milosevic plötzlich von kämpferischen Nationalisten zu europäischen Friedensstiftern geworden wären.

Der große Historiker Jacob Burckhardt schrieb in den "Weltgeschichtlichen Betrachtungen": Wenn zwei Krisen sich kreuzen, so frisst momentan die stärkere die schwächere auf. Die dramatische Wirtschaftslage in Serbien und dem Kosovo erwies sich als der mächtigste Hebel für die EU bei der Suche nach einem Kompromiss zwischen Belgrad und Pristina. Die Arbeitslosigkeit beträgt in Serbien 23 Prozent und im Kosovo sogar 45 Prozent. Jeder zweite der 1,8 Millionen Einwohner des Kosovo ist unter 18 Jahre alt. Das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt Serbiens, einst der Schrittmacher der Wirtschaftsreformen in Osteuropa, fiel infolge der selbstmörderischen Jugoslawienkriege auf ein Drittel des Durchschnitts der EU-27. Nur durch die Aussicht auf nähere Beziehungen zur EU (Beitritts- und Assoziierungsverhandlungen mit Serbien beziehungsweise dem Kosovo) kann man mit nennenswerten Auslandsinvestitionen und mit einer Ankurbelung der Wirtschaft  in den beiden Staaten rechnen.

Eine für beide Seiten annehmbare Lösung für die Rechtssicherheit der rund 100.000 bis 140.000 im Kosovo lebenden Serben könnte auch helfen, die serbischen Nationalisten im Nordkosovo, aber auch in Bosnien, und zugleich die albanischen Extremisten in Mazedonien (rund 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung) in die Schranken zu weisen. Nach 200 Stunden intensiver Verhandlungen haben beide starken Männer ihrer Volksgruppen in der Tat "ein enormes politisches Risiko" auf sich genommen. Diese Worte von Dacic gelten freilich auch sinngemäß für Thaci. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 18.6.2013)