Butoh als "Tanz der Finsternis": Charlotta Ikeda

Foto: Impulstanz
Wien - Sechs weiß gekleidete junge Frauen kauern im Kreis. Ihre Augen sind verbunden. Sie räkeln sich, wenden ihre weiß gepuderten Gesichter den grellen Strahlen der morgendlichen Sonne zu. Beine, Füße, Arme, Hände wachen auf, der Rücken rundet sich: Zögernd stellt man sich dem verheißungsvollen Tag der Opferung der Auserwählten.

Carlotta Ikeda, die den japanischen Butoh-Tanz von Paris ausgehend seit den 80er-Jahren in Europa populär machte, hat sich in Haru no saiten/Un sacre du printemps mit Igor Strawinskys Frühlingsopfer auseinander gesetzt. Ikedas Interpretation ist denn schon eine sonderbare, hat mit der berühmten Vorgabe eigentlich gar nichts im Sinn.

Die Musik, eine Komposition von Alain Mahé, klingt, wie Butoh-Begleitmusik meistens klingt: atmosphärisch. Selten, dann bloß einige Töne lang, ist Strawinskys Original verfremdet zu erkennen.

Mit Ko-Choreograf Ko Murobushi hat Carlotta Ikeda an dem Stück gearbeitet. Beide sind aufeinander abgestimmte Produktionspartner. Das Ergebnis ist ein professionell gearbeitetes Stück, ein Bilderbogen vor türkisem Hintergrund, eingebettet in stimmungsvolles Lichtdesign. Die Tänzerinnen tun ihr Bestes, sind brave Schülerinnen dessen, was als Butoh, als "Tanz der Finsternis", in Mode kam. Die Mädchen schneiden Grimassen, verdrehen ihre Augen, bewegen sich im tiefen Plié, der "Erde" nah, weiter. Sie geben sich exaltiert und ausgelassen.

Dann plötzlich tauchen die Geschöpfe als Ballerinen auf, persiflieren unbegründet Partien aus dem Ballett. Carlotta Ikeda, die "Hohepriesterin", wird in einer Plastiktüte hereingetragen: Eine bedrohliche Warnung für das unschuldige Mädchencorps. Nach der Folge ungereimter Parts fragt man nur noch: Was heißt Haru no saiten?

Immerhin, die letzten Szenen vermöchten einen auszusöhnen. In meditativer Ruhe, aus der inneren Kraft heraus, rückt Carlotta Ikeda ihre Person in den Mittelpunkt. Sie ist die Schicksalsrichterin, sie lässt den rituellen Tod nicht zu. Zu japanischem Trommel und Glockenklang bäumen sich die Mädchen auf, recken ihre Körper dem Himmel entgegen. Die Opferung ist selig überwunden, von Sacre du printemps blieb nichts als hohler Überbau. (DER STANDARD, Printausgabe, 25.7.2003)