Ein angenehmer Hausgenosse soll der Avatar sein, der älteren Menschen auch in Sachen Freundschaft auf die Sprünge hilft. 

Foto: CVG / TU Graz

Um einsame Senioren aus ihrer Isolation zu führen, haben IT-Experten und Psychologen aus mehreren Ländern einen virtuellen Freundschaftscoach entwickelt.

Auch wenn man von den Alten viel lernen kann – wie man neue soziale Kontakte knüpft und aufrechterhält, verlernen sie mitun­ter im Lauf des Lebens. Denn üblicherweise werden Beziehungen mit Schule, Beruf und Familie praktisch frei Haus mitgeliefert. Im Alter lösen sich Freundeskreise und Familien auf, die Folge ist das in der westlichen Welt weitverbreitete Phänomen der Altersvereinsamung. Ein massives Problem, das angesichts der demografischen Entwicklung – 2060 wird bereits fast ein Drittel der EU-Bevölkerung über 65 Jahre alt sein – dringend nach Lösungen verlangt.

Ein internationales Projekt setzt dabei ausgerechnet auf Computer – die oft selbst als Auslöser von Vereinsamung gelten. Das von Forschern aus sechs EU-Ländern getragene Programm "Virtual Coach Reaches Out To Me", kurz V2me, soll der Generation 65 plus helfen, gesellschaftlich aktiv und geistig fit zu bleiben, neue Freunde zu finden und ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen. Und das soll gerade bei alten Menschen per Computer funktionieren? "Durchaus", ist Sven Havemann vom Institut für Computergrafik und Wissensvisualisierung der TU Graz überzeugt. "Allerdings müssen wir uns darüber klar werden, dass es nicht die alten Menschen sind, die für den Computer zu unerfahren und dumm sind – wie sie oft selbst befürchten –, sondern dass es umgekehrt die Computer sind, die wir intelligenter und für die Senioren attraktiver machen müssen."

Gemeinsam mit seinem Team arbeitet der Informatiker deshalb an einer für ältere Nutzer adäquaten Visualisierung des Computerprogramms. Finanziert wird der österreichische Beitrag an V2me, das Teil eines EU-Programms zur Entwicklung von IT-Lösungen für alte und pflegebedürftige Menschen ist, von der Forschungsförderungsgesellschaft FFG.

Wie aber kann eine Computersoftware beim Aufbau neuer Kontakte helfen? Geht es hier um eine Art Facebook für Oldies? "Nein, denn bei Facebook bleiben die meisten Kontakte virtuell, wir aber wollen die Menschen im realen Leben zusammenbringen", sagt Ha­vemann. Der erste Schritt dabei sei zunächst das Auslösen eines Reflexionsprozesses bei den Senioren: Warum brauche ich überhaupt andere Menschen für mein Wohlbefinden? Was bedeutet mir Freundschaft? Was erwarte ich von anderen Menschen?

Lektionen für mehr Offenheit

Diese Annäherung an ein Thema, über das sich viele ein Leben lang kaum Gedanken gemacht ­haben, erfolgt bei V2me über zwölf von Psychologen entwi­ckelte "Freundschaftslektionen". Dabei werden die User etwa trainiert, offen auf fremde Menschen zuzugehen und mit Unbekannten ein Gespräch zu beginnen. Das System erkennt überdies, ob das Problem des Nutzers eher beim Aufbau oder beim Aufrechterhalten von Freundschaften liegt, und passt seine Vorschläge entsprechend an. Es fragt die Interessen der Senioren ab, schlägt Veranstaltungen und Gruppen am Wohnort vor, übernimmt die Terminplanung und verwaltet die einzelnen Freundschafts- bzw. Interessenkreise.

Dabei haben die Forscher dar­auf geachtet, die Desktopoberfläche möglichst zielgruppenadäquat zu gestalten: "Um die Senioren auch auf einer optischen Ebene persönlich ansprechen zu können, setzen wir einen Avatar in Form eines freundlichen älteren Herrn ein", berichtet Havemann. "Damit können wir das System als angenehmen Hausgenossen präsentieren, der bei Bedarf immer verfügbar ist, gute Tipps gibt, an Termine erinnert und gelegentlich auch Denkanstöße gibt."

Aus Untersuchungen ist bekannt, dass ein passend gestalteter Avatar von den Usern mit der Zeit als Gesprächspartner durchaus ernst genommen wird. Voraussetzung dafür ist allerdings die Einbindung von reichlich psychologischem Wissen: Die alten Menschen sollen sich ja nicht bevormundet, kritisiert oder genervt fühlen, sondern möglichst sensibel zu sozialen Aktivitäten motiviert werden. "Es ist eine spannende Erfahrung, dass unsere Zielgruppe im Umgang mit Computern weitgehend unerfahren ist", betont der Forscher. "Durch den Blick der alten Menschen auf den Computer ändert sich auch meine Sichtweise, und ich hinterfrage Dinge, die für mich bisher selbstverständlich waren."

Erste Testläufe des neuen Systems in den Niederlanden, Finnland und Deutschland haben bereits positive Ergebnisse erzielt. "Allerdings konnten wir in diesem Projekt erst die Spitze des Eisbergs ankratzen", verweist Havemann auf den großen Forschungsbedarf in diesem Bereich. Immerhin geht es hier um ein riesiges, schnell wachsendes, äußerst heterogenes Bevölkerungssegment, um das sich die IT-Branche bisher kaum gekümmert hat. Für die Wirtschaft ist es ein enormer Markt, für die Wissenschaft ein weites Feld mit vielen weißen Flecken – und für Senioren eine kaum erschlossene Quelle für ein besseres Leben. (Doris Griesser /DER STANDARD, 12.6.2013)