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Foto: Christoph Ruhsam

Die Reise begann lange davor im Kopf, weil darin Träume entstanden, die die spiegelglatten Weiten der Sunde zwischen den Inseln im Licht der arktischen Nächte erstehen ließen. Diese Eindrücke waren so real, dass ich sie vor Ort staunend glaubte wiederzukennen, obwohl ich sie nie zuvor gesehen hatte. Im Kopf herrschte das richtige Klima für die hunderten Inseln, die selbst am Ende des arktischen Sommers völlig mit Gletschern und Schnee überzogen waren. Die Sonne stieg bei 82 Grad Nord am nördlichen Ende des Archipels in der Mitte der Nacht noch einige Sonnenscheiben-Durchmesser hoch über das Nordpolarmeer.

Das Klima im Kopf erahnte das Klima vor Ort im 21. Jahrhundert: kein Packeis mehr, das die vielen Meeresarme wie den Austrian Channel oder den British Channel blockieren konnte. Das Schiff steuerte durch den ständigen Nebel, der in großen und kleinen Schwaden in der Luft hing. Manchmal war nichts zu sehen außer der Hand vor den Augen. Manchmal durchbrachen Sonnenstrahlen den blei- bis lavendelgrauen Himmel und gaben den Eisbergen, Inlandeiskuppen und mit frischem Schnee bedeckten Frostschuttbergen den Akzent, der diese unberührte Landschaft am wahren Ende der Welt in eine unbegreifliche Bescheidenheit hüllte. Senkrechte Eiswände schwangen sich in organischen Linien vom Permafrostboden auf und zogen kilometerlang den Horizont entlang, bis sie durch die natürliche Sichtweite oder die Nebelschwaden verschlungen wurden.

Bis zu den Inseln von Franz-Josef-Land hat es tagelang nur Meer gegeben. Die Barentssee zeigte sich von der wilden Seite, mit Wellenbergen bei Sturmstärke 8 bis 9, die das Schiff von der Brücke herab gründlich in Meerwasser tauchte. Der Bordarzt hatte alle Hände voll zu tun, um die erbleichten Gestalten vom hastigen Gang zur Reling und zurück in den Schutz der Kajüten mit Mitteln zu versorgen, die ihnen das Leben weniger unleidlich erscheinen lassen sollten.

Wir stampften gegen die Kraft der Winde am 77. nördlichen Breitengrad, dort, wo die Entdecker von Franz-Josef-Land, Julius von Payer und Carl Weyprecht, am Beginn des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts zur gleichen Jahreszeit bereits mit ihrer "Tegetthoff" im Eis festgesessen waren. 129 Jahre reichten aus, um aus einer selbst im Sommer vereisten See ein stürmisches Schelfmeer zu machen. Wann wir genau den südlichen Inselbogen bei 80 Grad nördlicher Breite sichten würden, war unter diesen Bedingungen nicht vorhersehbar, aber es würden wohl die späteren Vormittagsstunden des dritten Tages auf See sein, bis sich die Inseln Mabel und Northbrook aus den Nebelbänken erheben würden.

Sehnsucht nach dem Unbekannten

Die Nähe der Inseln wurde evident, als sich die Oberfläche des nun ruhiger werdenden Meeres mit tausenden von Meeresvögeln belebte: Alken, Sturmtaucher, Skuas. Einheimische würden uns an den vereisten Küsten nicht erwarten, denn der Archipel war nie besiedelt gewesen. Zu sehr am wahren Ende der Welt gelegen und über die Jahrtausende vom festen Packeis vor Eindringlingen geschützt. Wären da nicht die Polarfahrer der österreichisch-ungarischen Monarchie gewesen, die es im Innersten gespürt und so sehr gehofft hatten auf noch unbekanntes Land zu stoßen, es zu erforschen und mit Namen der Monarchie übersäen zu können: Wilczek I., Erzherzog Rainer I., Kronprinz Rudolf I., Klagenfurt  I., Wiener Neustadt I. Der heldenhafte Kartograf selbst wurde mit "Payer Island" von späteren Expeditionen bedacht.

Nach seiner Entdeckung 1874 bis etwa 1930, als sich Russland diesen Archipel einfach zu Eigen machte, wurde Franz-Josef-Land zum Tummelplatz internationaler Nordpolexpeditionen, gaben sich legendäre Personen wie Fridtjof Nansen und Frederik Jackson die Hand. Nansen kam 1895 vom Nordpol her und musste den einbrechenden Winter in einer behelfsmäßigen Steinwallunterkunft auf Jackson Island überstehen. Mit Hilfe der Überlebenstechniken der Inuit ging er sogar mit Übergewicht in das Frühjahr, in dem es zu der bewegenden Begegnung ­- "You must be Nansen" - mit anschließender Rettung durch Jackson kam.

Russland zeigte erst am Beginn des 20. Jahrhunderts Interesse und baute in der "Stillen Bucht" (Tichaya Bay) die nach Leutnant Sedjow benannte Forschungsstation aus Holzhäusern, die noch heute gut konserviert von der arktischen, keimfreien Luft zu sehen sind. Im Sommer versucht man die Umweltsünden der über circa 50 Jahre betriebenen Station zu beseitigen, um dem Anspruch des 2011 errichteten Nationalparks gerecht zu werden.

Am Weg dorthin ziehen die Nebelschwaden um das vergletscherte Cape Flora Island und im Abendlicht dürfen wir über das aus den Träumen bekannte spiegelglatte Meer zwischen den Eisbergen zur Gunther Bay vordringen, um die Walrosskolonien zu sehen, zu hören und zu riechen. Aus der Perspektive der Annäherung schien sich die flache Felsinsel insgesamt zu bewegen bis zu erkennen war, dass es nicht die Felsen sind, sondern die hunderten von Walrossmüttern mit Jungen, die sich in trägen Bewegungen wälzten und uns mit blutroten Augen ansahen. Mit angehaltenem Atem bin ich überwältigt vom Anblick der Tiere, von ihren steifen Barthaaren und ihrer mit Mollusken besetzten, gefurchten Haut, die eine perfekte Isolation im minus eineinhalb Grad kalten Wasser ermöglicht.

Die letzten Schollen

Bis um 8 Grad Celsius könnte es in der Arktis in den nächsten Jahrzehnten wärmer werden. Wintertemperaturen um minus 30 Grad Celsius werden davon weniger betroffen sein als die Sommertemperaturen um den Gefrierpunkt. Eisbären sind durch das sommerliche Tauen des Meereseises dazu verdammt, an Land zu darben, wenn sie die "letzte Scholle" verpassen, wenn sich das Eis auf ein Kerngebiet um den Nordpol zurückzieht.  2012 wurden wir Augenzeugen der geringsten Eismeerbedeckung seit die NASA begonnen hat, über Satelliten die Packeisdecke zu vermessen. Über das Internet kann jeder die tagesaktuellen Eiskarten abrufen und sich ein Bild von dem dramatischen Eisschwund der letzten 30 Jahre machen: Im Winter umgeben circa 14 Millionen Quadratkilometer Eis den Nordpol, das im Sommermittel auf circa sieben Millionen Quadratkilometer abnimmt - das Atmen der Polarmeeres. 2012 waren es nur mehr 3,5 Millionen Quadratkilometer. Das entspricht einer Abnahme von 50 Prozent!

Noch schlimmer ist die Volumensreduktion um 80 Prozent, da das mehrjährige Eis immer weniger wird und die Stürme ein leichtes Spiel haben, im einjährigen Eis zu wüten. Dies lässt uns mit dem Schiff bis auf 83 Grad nördlicher Breite vordringen. Natürlich presst sich die Ortelius gegen die Eisschollen, schiebt sich darauf und bricht sie mit lautem Getöse, aber wir sind nicht auf einem der nuklearen Eisbrecher unterwegs. Trotzdem erreichen wir diese hohe Breite, um Eisbären in ihrem natürlichen Habitat zu sehen. Das Video "Chasing Ice North of Franz-Josef-Land" hält fest, was uns alle berührt.

Wir sehen auch ein Weibchen, das aus einem Kampf um Futter mit einer Schramme über dem Auge hervorgegangen ist. Es erscheint plausibel, dass durch die Nahrungsknappheit der Kampf ums Überleben härter wird, lebt doch eine ganze Kette von den Nahrungsreichtümern des arktischen Packeises, das immer weniger wird: An der Unterseite gibt es genügend Licht, um Plankton und Algen Nahrung zu bieten. Davon leben Fische, Meeresvögel, Robben, Wale, Walrosse, bis hinauf zum Eisbären. Eine wesentliche Umstellung dieses Ablaufes ist derzeit im Gange, mit unsicherem Ausgang für die Betroffenen. Der Mensch als Nutzer der großen arktischen Fischschwärme wird die Erwärmung nicht nur im Schrumpfen der Eiskappen erleben.

Vom nördlichsten Punkt des Archipels, von Payer nach dem österreichischen Kartografen August von Fligely benannt, erstreckt sich das Polarbecken über den Nordpol bis nach Alaska, das ab circa 2020 sogar für Nichteisbrecher am Ende des Sommers direkt querbar sein wird.

Auf Champ Island findet man den seltenen geologischen Prozess, der fast perfekte Steinkugeln von einigen Millimetern bis zu drei Metern Durchmesser über Jahrmillionen im Erdinneren gebildet hat. Auf Ziegler Island wandern wir ein Stück Moränenland entlang, das zuvor, so gut es aus historischen Daten erkennbar war, noch nie von Menschen betreten worden ist. Das arktische Licht tropft tief in die Seelen. Gegenüber auf Greely Island werden von der Expeditionsleitung vermutlich die Überreste des bis dato unbekannten Expeditionslagers der Ziegler-Expedition von 1902 entdeckt - Kane Lodge. Hier werden wir völlig unerwartet in in anderen Ländern längst nicht mehr mögliche Erlebnisse eingetaucht. Es drängt sich unwillkürlich das Gefühl von Dankbarkeit auf - dafür, ein ganzes "Land" noch (fast) unberührt von menschlichen Einflüssen erleben zu dürfen, gepaart mit der Erkenntnis, dass Einfachheit und Zurückhaltung notwendig sind, um der Menschheit das Überleben zu ermöglichen. (Christoph Ruhsam, derStandard.at, 14.6.2013)