Mit der neuen, vor kurzem präsentierten S-Klasse scheint Mercedes ein großer Wurf gelungen zu sein. Das war nicht immer so. Anfang der 1990er legte Stuttgart einen fetten Bauchfleck hin
Ludwig Wittgenstein hatte doch nicht recht. "Die Grenzen meiner Sprache", glaubte der Philosoph zu wissen, "bedeuten die Grenzen meiner Welt." Der Mann war nie bei der Präsentation eines neuen Automobils, schon gar nicht bei der Vorstellung einer neuen S-Klasse von Mercedes: Da werden die Grenzen von Sprache und Wahrnehmung regelmäßig gesprengt.
So auch beim ersten Schaulauf des taufrischen, betriebsintern W 222 gerufenen Oberklasse-Faktotums vor wenigen Wochen. Zum "Jahrhundertereignis" wurde der hochambitionierte Wagen gleich zum Beginn der Show in der Airbus-Auslieferungshalle zu Hamburg erhoben. Bei Vorstandschef Dieter Zetsche war an Superlativen ebenfalls kein Mangel: Der "König des Asphalts", das "beste Auto der Welt" als auch das "erfolgreichste Auto seiner Klasse" stiege sogleich hernieder.
Bei den Stuttgarter Ingenieuren, die das Superding erschaffen haben, wird der Neue schlicht "der fliegende Teppich" genannt. Letzteres darf getrost unter hausinterner Euphorie abgelegt werden. Die anderen Lobpreisungen haben - so man den ersten Bildern und dem unfassbaren technischen Aufwand Glauben schenken darf - zumindest eine Art Realitätsbezug.
Ein Realitätsbezug, der den Granden von Daimler Anfang der 1990er völlig abhandenkam. Auch damals, genauer im März 1991, galt es eine neue S-Klasse anzuzeigen. Doch die Vorstellung im Rahmen des Genfer Autosalons geriet zu einer der schrägsten Veranstaltungen in der Geschichte der Produkt-Präsentationen.
Präsentation der S-Klasse W 140 im Jahr 1991: Auto gewordener Big-Dick-Kapitalismus.
Auf der Bühne: Mercedes-Vorstand Werner Niefer. Neben ihm: die brandneue S-Klasse, Code W 140. Vor ihm: hunderte Journalisten, die nicht anders konnten, als sich teils verdutzt, teils schockiert die Augen zu reiben, während der Daimler-Boss in den Beweihräucherungs-Modus überging: "Star unter den automobilen Glanzlichtern", "größtes Mercedes-Pkw-Projekt aller Zeiten", Bestmarken bei Windschlüpfrigkeit, Komfort, Luxus, Sicherheit.
Blöd nur, dass der so Adressierte nicht wie die Zukunft der Oberklasse, sondern wie ein tapsiger, feister Potentat daherkam, dem Eleganz und Charisma auf dem Weg zur automobilen Allmacht abhandengekommen waren. 5,2 Meter lang, 1,89 Meter breit, 1,5 Meter hoch und bis zu 2,2 Tonnen schwer war dieser phänomenale Riegel. Eine kolossale Antwort auf eine nie gestellte Frage.
Ist halt 'n bisschen dicker geworden
Fragen hatten dafür die Schreiberlinge nach der denkwürdigen Inauguration. Vorstandschef Niefer, ein kumpelhafter Typ mit rundlichem Gesicht und markanter Brille, hielt den Nachforschungen nicht lange stand. Als die Rede auf die im Vergleich zum Vorgänger 320 Kilo Mehrgewicht kam, winkte der Mercedes-Boss gelangweilt ab: "Der ist halt 'n bisschen dicker geworden." Was angesichts des Gezeigten eine dezente Untertreibung war: Weg war die selbsterklärende Eleganz des Vorgängers W 126, keine Spur von den kühl-modernen Looks der Mittelklasse W 124. Stattdessen präsentierte sich der von dem ansonsten unfehlbaren Chef-Designer Bruno Sacco gestaltete Wagen als erratischer Repräsentationsbau, der vor allem am feisten Heck eine echte Problemzone mit sich herumtrug.
Endlich, da war man sich bei Journaille und Auskennern einig, hatte man Mercedes nach Jahrzehnten der Alleinherrschaft bei einem Fehler erwischt. Porsche-Entwicklungschef Ulrich Bez, heute Mastermind bei Aston Martin, kommentierte die Kenndaten schnoddrig mit einem "schon sauschwer". VW-Motorenchef Franz Hauk richtete dem Über-Benz via "Spiegel" ein wenig diplomatisches "ein bisschen nichtssagend" aus. Ein Kritiker attestierte dem Wagen gar, dass "eine Seife mehr Styling-Charme" habe.
Zwei beste Luxus-Limousinen der Welt
Und Mercedes? Reagierte auf den Image-Super-GAU mit aristokratischer Gleichmut. Immerhin hatte man über Jahrzehnte hinweg die edle Neuware mit dem Stern am Kühler nicht verkauft, sondern zugeteilt, bei der Kritik konnte es sich also bloß um ein grobes Missverständnis handeln. Schließlich konnten die stolzen Schwaben auf eines vertrauen: Wieder einmal das beste Auto der Welt gebaut zu haben. Und das war die zwischen 88.000 und 120.000 D-Mark teure S-Klasse zweifellos. Komfort, Auftritt, Technik - der W 140 markierte wieder den Zenit in der Oberklasse.
Das wurde dem Neuen dann auch in diversen Tests attestiert: "Ein wundervolles Automobil", "Die Menge an Fahrsicherheit ist kaum zu übertreffen", "Eine Himmelsschaukel" - so lauteten die Elogen auf den Koloss aus Stuttgart-Untertürkheim. Allein: Es gab in jenen Tagen eine Luxuslimousine, die ebenfalls das beste Auto der Welt war, die BMW 7er-Oberklasse E32.
Schlag in die Weichteile
Die hatte 1986 bereits den Vorgänger der Mercedes-Nobelkarosse, den betagten W 126, aus der Chefetage des Automobilbaus expediert. Der elegant-dynamische Bayer ließ den Ober-Benz schlagartig steinalt aussehen, sein seidiges 12-Zylinder-Aggregat - der erste deutsche Zwölfender der Nachkriegszeit - war nicht weniger als ein Schlag in die Testikel.
Dass die augenscheinliche Wuchtigkeit des W 140 eine Panikreaktion der Stuttgarter auf den hocherfolgreichen Herausforderer war, ist dennoch ein Mythos. Bereits einige Monate bevor der 7er debütierte, hatte die Vorstandsetage das Design für den W-126-Nachfolger abgenickt. Zu diesem Zeitpunkt waren die Versuchsträger schon seit Jahren unterwegs. Die Hybris der 1980er-Jahre mit einem ausufernden Automobil abzubilden - dazu benötigte die sehr selbstbewusste Mercedes-Truppe keine Impulse von BMW.
Die Krücken des Bösen
Tatsächlich hatten die Stuttgarter auch so genügend Grund für ein ausgeprägtes Ego: Hochgerüstete Technik (erstmals kam im einem Großserien-Mercedes ein CAN-Datenbussystem zum Einsatz) und raffinierte Komfortbeigaben (die Sitze waren mit allerlei aufblasbaren Seiten- und Rückenpolstern versehen, dazu so mannigfach verstellbar, dass von der zarten Hofratswitwe bis zum feisten Vorstandsboss jeder mit dem Fünf-Meter-plus-Riegel hantieren konnte) machten den W 140 zu einem Solitär.
An einer anderen Maßnahme zur Verbesserung der Übersichtlichkeit scheiterten die Ingenieure jedoch kläglich: Nachdem damals die Parksensorentechnik noch nicht ausgereift war, tüftelte man an einem Prisma aus Plexiglas für das Heckfenster, um das Steilheck einsehen zu können. Doch die Tests offenbarten, dass einfallendes Licht die Nachkommenden blendete. Also verfielen die Techniker auf eine prinzipiell solide Lösung: ausfahrbare Peilstäbe. Das Publikum sollte mit Häme reagieren: Ein Super-edel-Luxuswagen mit Einpark-Krücken? Was für ein Schenkelklopfer.
Wumme mit Bumms
Tatsächlich schlagend wurde bei Mercedes die BMW-Ansage allerdings in zwei Bereichen: Fahrwerk und Motoren. 1988 riss man nach Testfahrten am Nürburgring noch einmal die bereits fertige Chassis-Konstruktion auf, um dem Feistling die fahrdynamischen Werte des Bayern anzuerziehen. Dabei wurde auch eine größere Bremsanlange implantiert, die wiederum die Felgen wachsen ließen. Per Schnelloperation mussten die Radkästen vergrößert werden. Das Fahrwerk war nach den Eingriffen zwar standesgemäß auf der Höhe, die aufgeschnittenen Radhäuser ließen die Proportionen des W 140 jedoch weiter verrutschen.
Bei den Motoren hingegen gab es angesichts des BMW-Prestigetriebwerks kein Halten mehr. Eilig wurde ein neuer 12-Zylinder-Motor für die Top-Version 600 SEL zusammengebaut, der mit seinen 408 PS den BMW 750iL um schlanke 108 PS toppte. Der Motor war nicht gut. Er lief nicht geschmeidig. Aber er war effektiv wie eine Bazooka: In 6,1 Sekunden katapultierte sich der Koloss auf Tempo 100.
Kein Breitling nach Sylt
Am Ende hatte Mercedes-Benz zehn Jahre getüftelt, Rekord-Entwicklungssummen von zwei Milliarden D-Mark investiert und nichts weniger als ein perfektes, revolutionäres Automobil erschaffen. Blöd allein, dass das wuchtige Äußere beim Publikum so gar nicht ankam.
Und die bayrische Konkurrenz johlte, schaltete Anzeigen, in denen "Automobile mit Übergröße" und "überflüssigen Pfunden" verspottet wurden. Mercedes konterte und verwies auf die - tatsächlich - enorme Handlichkeit (geheime Parkhaustests waren Teil der Entwicklung). Auf den Autoreisezug nach Sylt, dem Top-Ziel für betuchte Urlauber, hatte man jedoch vergessen: Der Breitling passte nicht auf die Waggons.
Der Kanzler schlägt zu
Und die Peinlichkeiten nahmen kein Ende: Als wenige Monate nach dem Marktstart in Stuttgart ruchbar wurde, dass S-Klasse-Kunden bei BMW-Niederlassungen Schlange standen, um ihre so gut wie neuen Kaleschen einzutauschen, herrschte in Schwaben Alarmstufe Rot. Mercedes-Händler wurden in Marsch gesetzt, um die Problemware zu Höchstpreisen zurückzukaufen - schließlich machten sich die sehr jungen Gebrauchten auf dem Händlerhof der Konkurrenz nicht wirklich gut. Gleichzeitig gewährte Daimler üppige Rabatte, um die Edel-Limousine unters Volk zu bringen.
Doch das Volk hatte den Daumen über dem Benz bereits gesenkt. Der große Mercedes, das war für den kleinen Mann mittlerweile einfach nur noch "der Dicke". Als Helmut Kohl, deutscher Kanzler der Einheit und mit der Statur eines Renaissance-Fürsten gesegnet, ebenfalls zur S-Klasse griff, um sich im Fond durch blühende Landschaften karriolen zu lassen, war der Rufname endgültig gefunden: Die S-Klasse W 140, das war fortan der "Helmut Kohl".
Das S-Klasse Coupé: Eleganz der großen Form.
Für den gab es bereits drei Jahre nach dem Debüt - das wenig smarte Coupé war mittlerweile erschienen - die erste kosmetische Maßnahme. Mit einigen Sicken versuchten die Designer ein wenig Struktur in die pompösen Flächen zu bringen. Zudem wurden die Heckleuchten mit ein paar Tricks optisch verkleinert. 1996 musste der Dicke zur nächsten Retusche antreten. ASR, Xenon und Regensensoren waren nun an Bord, die clownesken Peilstäbe wichen einer Ultraschall-Einparkhilfe. Doch selbst diese Hightech-Beigaben konnten nicht den erhofften Sympathieschub auslösen.
Erfahrungsresistente Bayern
Nach sieben Jahren Bauzeit zog man in Stuttgart den Stecker. Kaufmännischer Flop war der W 140 kraft Zahlen keiner, immerhin verkaufte sich der Wagen 407.000 Mal. Sein Nachfolger, der W 220, war aufgerufen, den Großklotz vergessen zu machen. Nachgerade dezent gezeichnet, pendelte der Neue den Design-Unfall mit dem eingebauten Image-Knick wieder aus.
Und BMW? Lernte aus dem Big Fail der Konkurrenz gar nichts. 2001 ließen sich die Bayern von der Großmannssucht übermannen und präsentierten den bräsig-wuchtigen 7er E65. Das exaltierte Design verantwortete ein gewisser Chris Bangle. Und das war - wir folgen den Einschätzungen der BMW-Szene - ziemlich verbangelt.
Ansichtssache: