"Eigentlich", sagt Autorin Monika Mokre, "warte ich darauf, dass unsere Kinder oder deren Kinder uns im Rückblick einmal fragen werden: 'Was war denn da los?', 'Wie konnte das sein?'"

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"Es gibt das Volk, von dem die Macht ausgeht, und das diese Macht so verwenden soll, wie es sich seine gewählten Repräsentant_innen vorstellen. Doch außerdem gibt es auch immer mehr Leute, die eigentlich auch zum Volk gehören, genauer gesagt zur Wohnbevölkerung, und die nicht regieren dürfen", schreibt die Politikwissenschafterin und Autorin Monika Mokre in ihrem neuen Text über Politikverdrossenheit und Demokratie in Zeiten der Mobilität und Einwanderung, den sie im Rahmen der Bezirksfestwochenveranstaltung "Auf einen Kaffee" verlesen hat.

In der Diskussion kam die Rede auf die Härten, mit denen Migranten und Schutzsuchende im Kontinent Europa konfrontiert sind, der sich selbst als Kontinent des Wohlstands und der Menschenrechte definiert. Und, dass es in der breiten politischen Öffentlichkeit, wie sie derzeit ist, keinen Platz, keine wirkliche Aufmerksamkeit für eine Infragestellung dieser Umstände gibt.

Staatsbürgerschaft für viele unerreichbar

Etwa, dass manche Menschen ihr gesamtes Leben in einem Staat, etwa Österreich, verbringen, hier Kinder aufziehen und arbeiten, ohne dass sie je demokratisch mitentscheiden können. Weil das in Österreich an die Staatsbürgerschaft gebunden und die Staatsbürgerschaft aufgrund der strengen Kriterien für viele unerreichbar ist. Das werde zwar – von Wenigen, aber doch – als Problem erkannt. Aber über Maßnahmen, um es zu ändern, werde von den dafür Verantwortlichen nicht ernsthaft nachgedacht, Auswege aus diesem im Grunde demokratiegefährdenden Zustand würden nicht gesucht.

Selbst der wirtschaftsaffine, von Raiffeisen und Einzelunternehmern gegründete und somit sicher nicht als "links" oder aufrührerisch gesinnte Verein Wirtschaft für Integration habe es hier schwer, gehört zu werden. Seine in einer aktuellen Onlinepetition (www.vwfi.at) unter anderen gestellte Forderung nach einer WohnsitzbürgerInnenschaft mit vollem Wahlrecht für alle, die länger als drei Jahren in Österreich leben, schramme am Bewusstsein der Massen vorbei.

National begrenzt

Dass Wirtschaftstreibende Begrenzungen in Frage stellen, die ihnen aufgrund eines national bestimmten Denkens gesetzt werden, sei nicht ganz neu, meint Monika Mokre dazu. In einer von Migration mitbestimmten Gesellschaft wie der österreichischen heute stoße sich das Bedürfnis nach mehr Wertschöpfung zunehmend an der beträchtlichen Irrationalität der Einbürgerungs- und Integrationsdiskussion in Österreich.

Dies zeige sich vor allem an den Ausschlussmechanismen (ein an Hierbleiben Interessierter muss ein Einkommen in einer Höhe vorweisen, das für viele unerreichbar ist) und den Deutschlern-Zwängen (wo doch gerade Vielsprachigkeit in einer globalisierten Welt ein Asset ist).

Unmenschlichkeiten aus der Zukunftsperspektive

Und dann gebe es noch die Kälte gegenüber Schutzsuchenden, das Nicht-Erkennen offensichtlicher Notlagen, das grundlegende Misstrauen gegen "Asylanten". "Eigentlich", sagt Monika Mokre, "warte ich darauf, dass unsere Kinder oder deren Kinder uns im Rückblick einmal fragen werden: 'Was war denn da los?', 'Wie konnte das sein?'" Irgendwann werde die Erstarrung weichen und einen klaren Blick auf die Unmenschlichkeiten ermöglichen, die dann Unmenschlichkeiten von früher sein werden: Mit Leidtragenden, denen das dann nicht mehr helfen wird.

Diese Erstarrung manifestiert sich derzeit in einem verbreiteten Gefühl der Gleichgültigkeit, in dessen Schatten Menschenrechtsbrüche sowie soziale und politische Rückschritte passieren. Das findet schier unaufhaltbar statt, in vielen Bereichen der Gesellschaft, doch die Mehrheit will sich damit nicht beschäftigen. Nur in kleinen Zirkeln, die sich der Naivität und Weltfremde bezichtigen lassen müssen, wird derlei derzeit wirklich wahrgenommen und diskutiert.

An Europas Rändern

Etwa das, was zuletzt Irene Jancsy bei einer Pressekonferenz schilderte, die Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit von "Ärzte ohne Grenzen": Die Organisation, die medizinische Hilfe in Krisengebieten anbietet, ist Teil einer breiten Allianz, die besagte Diskussionen an die Öffentlichkeit bringen möchte, um für einen humaneren Umgang mit Flüchtlingen Druck zu machen. Seit vergangenen Freitag werden, ebenfalls online, Unterschriften sammelt (www.gegen-unmenschlichkeit.at).

Jancsys Schilderungen betrafen keine verarmten, fernen Länder, sondern Europa. Präziser dessen Ränder oder die Regionen davor: Flüchtlingsauffanglager auf Malta etwa oder in Tunesien, einem Durchreiseland für viele Flüchtlinge und Migranten.

"Alles mit Sex bezahlen"

In manchen nordafrikanischen Lagern herrsche grundsätzliche sexuelle Gewalt: "Hier muss man alles mit Sex bezahlen", habe eine junge Frau den Ärzten erzählt. In den Auffangstationen an Europas Grenzen wiederum seien die Ankommenden mit beschämenden Verhältnissen konfrontiert: "Wir sind hier seit Oktober, schlafen zu dritt auf einer Matratze. Es ist ist kalt, weil das Fenster kaputt ist", zitierte Jancsy einen neunjährigen Flüchtlingsbuben in Italien. Und eine aus Westafrika geflohene Frau auf Malta habe geschildert, wie sie nach ihrer Entbindung eines ihrer Kleider habe zerreißen müssen, um Windeln für ihr Baby zu haben.

Dass in Europa derlei Dinge geschehen, ist ein Skandal. Möglich ist es unter anderen deshalb, weil viele Menschen derlei Schilderungen nur mit einem Achselzucken oder gar zynischen Kommentaren quittieren. Und genau das ist der Kern des Problems. (Irene Brickner, derStandard.at, 10.6.2013)