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Volksfest und Ruf nach mehr Demokratie: Die Menschenmassen auf dem besetzten Taksim-Platz in Istanbul schwollen am Wochenende noch einmal an.

Foto: APA/ EPA / Tolga Bozoglu

Einen Führer wie ihn gebe es nur einmal in 100 Jahren, schwärmt sein engster Berater und droht: "Wir lassen nicht zu, dass irgendjemand Erdogan auffrisst." Yalçin Akdogan legt sich dieser Tage ins Zeug. Der Premierminister muss gerettet werden. Die landesweiten Proteste in der Türkei und die ausländischen Hintermänner, an deren Existenz die Regierung die türkische Öffentlichkeit glauben machen will, dürfen den Ausnahmepolitiker Er­dogan nicht demontieren.

"Wir haben unsere Ohren nicht verschlossen", rapportiert die regierungstreue türkische Presse am Sonntag vom jüngsten Auftritt des Beraters. Die Forderungen der De­monstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul würden gehört. Angenommen werden sie freilich nicht. Tayyip Erdogan hat daran keinen Zweifel gelassen.

Vier Stunden Beratung

Während die Menschenmassen am Wochenende auf dem zen­tralen Platz der Millionenmetropole auf über 100.000 anschwollen, versuchte Erdogan seine Partei wieder auf Kurs zu setzen. Vier Stunden tagte das oberste Gremium der AKP vergangenen Samstag in Istanbul. Spekulationen über vor­gezogene Neuwahlen beendete Hüseyin Çelik' der Sprecher der konservativ-muslimischen Regierungspartei. "Es gibt keinen Bedarf für Neuwahlen. Das Parlament arbeitet wie eine Uhr", stellte Çelik fest.

Dort hat die AKP weiter 327 der 550 Sitze. Eine komfortable Mehrheit, die Kompromisse unnötig macht. EU-Erweiterungskommissar Štefan Füle spielte darauf an, als er vergangenen Freitag in einer Rede in Istanbul den türkischen Premier im Publikum zu Geduld mit der Protestbewegung aufrief und mit Gruppen, "die sich nicht von der parlamentarischen Mehrheit repräsentiert fühlen".

"Taksim-Solidarität", die lose Dachorganisation der Besetzergruppen, bekräftigte in einer Erklärung: "Wir setzen den Protest fort, bis unsere Forderungen erfüllt sind." Bisher habe die Regierung keine Antwort gegeben. Bei einem Treffen von einem halben Dutzend Vertretern der Protestierenden mit dem türkischen Vizepremier Bülent Arinç in Ankara war eine Liste vorgelegt worden. Stopp der Bauprojekte am Taksim-Platz und der Zerstörung des Gezi-Parks steht dort, aber auch des Baus einer dritten Brücke über den Bosporus sowie der Rücktritt aller Verantwortlichen, die an der gewaltsamen Auflösung der De­monstrationen am 31. Mai und am 1. Juni beteiligt waren.

Augenzeugen berichten von langwierigen basisdemokratischen Debatten von "Taksim-Solidarität" im Park, bei denen auch nach Stunden nicht einmal eine Einigung über Diskussionsthemen erzielt wurde.

Signale für Räumung

Regierung und Behörden sandten unterschiedliche Signale zu einer möglichen Räumung des Taksim-Platzes, der nun in der dritten Woche besetzt ist, mit Barrikaden an den Zugangsstraßen, auf denen Aktivisten immer wieder Steine schichten. Der Gouverneur von Istanbul, Polizei und Innenministerium hatten nach Beratungen erklärt, dass bis heute, Montag, kein Einsatz geplant sei. Eine später folgende Twittermeldung des Gouverneurs wurde dahingehend verstanden, dass auch ab Montag keine Gewalt angewandt werde.

Nach Ansicht von Beobachtern setzt die Regierung darauf, dass sich die Bewegung langsam verläuft. Der Einsatz von Provokateuren, die Unruhe stiften und der Polizei den Vorwand zum Eingreifen liefern könnten, scheint manchen Teilnehmern der Protestbewegung ebenfalls möglich. Auch am Wochenende hielt sich uniformierte Polizei vom Taksim-Platz und von Teilen der Istiklal-Caddesi, der angrenzenden, bei Touristen beliebten Einkaufsstraße, fern.

Aufmerksamkeit fand eine Erklärung des Istanbuler Bürgermeisters Kadir Topbaş, ebenfalls ein AKP-Mann. Es sei der Wunsch Erdogans gewesen, den Gezi-Park abzuroden und an seine Stelle die Halil-Pascha-Topçu-Kaserne aus dem 19. Jahrhundert wiederaufzubauen, erinnerte der Bürgermeister. Glücklich scheint er längst nicht mehr darüber. (Markus Bernath, DER STANDARD, 10.6.2013)