Dalia Ziada über die momentane Lage in Ägypten: "Das ist die Ruhe vor dem Sturm."

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Gut gelaunt zeigt sich Dalia Ziada. Man merkt der 30-jährigen Ägypterin nicht an, dass ehemalige Arbeitskollegen soeben zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Dass das politische Chaos in ihrem Land kein Ende nimmt. Und dass die auch von ihr mitentfachte Revolution zu noch größerer Repression geführt hat. Im Interview mit derStandard.at gibt sich eine der wichtigsten Menschenrechtsaktivisten des Landes trotzdem selbstkritisch. Naiv hätten die Revolutionäre nach dem Sturz Mubaraks reagiert, sagt sie. Gleichzeitig kündigt sie neue Proteste gegen die Regierung von Präsident Mohammed Mursi an. Sie kritisiert sowohl die EU als auch die USA und erklärt, wie sie aus Revolutionären Politiker machen will. 

derStandard.at: Am Dienstag wurden in Ägypten Mitarbeiter nationaler und internationaler NGOs zu teilweise mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Für die Organisationen selbst wurde die Schließung angeordnet. Das betrifft Sie indirekt auch.

Ziada: Ja, ich habe bis vor kurzem für eine amerikanische NGO gearbeitet, den American-Islamic Congress. Die nun Verurteilten kenne ich teilweise persönlich, ich habe mit ihnen zusammengearbeitet. Das Gericht hat überhaupt keine Beweise, es ist also höchst unfair, dass junge Menschen, die aufgrund ihres Glaubens an Demokratie und Menschenrechte mitgearbeitet haben, nun im Gefängnis landen. Es hat mir einen Schock versetzt, als ich davon erfahren habe.

derStandard.at: Was soll damit erreicht werden?

Ziada: Es gibt große wirtschaftliche und politische Probleme im Land. Was das  Regime nun macht, ist, die Schuld auf andere zu schieben. Die ägyptische Zivilgesellschaft und die Führungen der USA und der EU sollen dafür herhalten.

derStandard.at: Was erwarten sie als Nächstes?

Ziada: Weitere Unterdrückung der Bevölkerung auf scheinbar legalem Weg, eine zunehmende Einflussnahme der Regierung auf alle Lebensbereiche. Wir haben diese Regierung gewählt, sie ist daher zu Recht an der Macht. Da wir uns aber in einem Demokratisierungsprozess befinden, gibt es zum Beispiel keine Verfassung, die die Bevölkerung schützt. Es gibt auch keine Institutionen, die einschreiten, wenn Präsident Mursi seine Grenzen überschreitet. Es ist keine Diktatur, aber eine illiberale Demokratie. Doch wenn niemand etwas unternimmt, wird es bald eine neue Diktatur in Ägypten geben.

derStandard.at: Wer kann etwas dagegen unternehmen? Und wie?

Ziada: In einem Demokratisierungsprozess wird die Bevölkerung in der Regel irgendwann müde, desillusioniert. Hier aber nicht, hier kämpft die ägyptische Bevölkerung sehr hart gegen die Repression an.

derStandard.at: Zum Beispiel?

Ziada: Es gibt eine großangelegte Unterschriftenaktion. Innerhalb von drei Monaten haben acht Millionen Ägypter unterschrieben, um den Abtritt von Mursi und sofortige Neuwahlen zu fordern. Das Ziel ist nun, mehr Unterschriften zu sammeln, als Mursi letztes Jahr Stimmen bekommen hat. Das sind etwas mehr als 13 Millionen. Wenn wir das schaffen, wäre das ein kräftiges Signal an die USA und die EU, den Druck auf Mursi zu erhöhen.

derStandard.at: Man bekommt aber den Eindruck, dass die Proteste auf den Straßen Ägyptens weniger werden.

Ziada: Das stimmt. Es ist aber sozusagen die Ruhe vor dem Sturm. Mitte Juni wird Mursi ein Jahr im Amt sein, dann sind wieder große Proteste auf dem Tahrir-Platz geplant. Konkret für den 13., den 15. und den 17. Juni.

derStandard.at: Sie hoffen auf Druck der USA und der EU. Wie bewerten Sie die bisherige Rolle der beiden Akteure?

Ziada: Die EU macht einen besseren Job als die USA, aber es ist trotzdem nicht genug. Es reicht einfach nicht, ab und zu nach Ägypten zu reisen, mit Menschenrechtsaktivisten zu reden, einen Bericht zu schreiben und dann nichts mehr zu tun. Die EU sollte den Druck auf die ägyptische Regierung erhöhen, damit sie die Menschenrechte einhält. Man könnte angesichts der wirtschaftlichen Probleme in Ägypten auch finanzielle Anreize schaffen, um die Situation im Land zu ändern.

derStandard.at: Und die USA? Sie waren vor ein paar Tagen in Washington D.C., um auf die Lage in Ihrem Land aufmerksam zu machen. Was war die Reaktion?

Ziada: Die Reaktion, unter anderem von US-Außenminister John Kerry, war sinngemäß so: Wir sind Leader, und wir arbeiten auch nur mit Leadern zusammen. Ihr habt die Regierung gewählt, also kooperieren wir mit ihr. Wählt ihr jemanden anderen, werden wir mit ihm zusammenarbeiten. Dass die Angelegenheit etwas komplizierter ist, dass die Muslimbruderschaft die Bevölkerung unterdrückt, wollen sie nicht einsehen. Beziehungsweise haben sie auch Angst davor, dass die Salafisten an die Macht kommen. Sie denken, das sei die einzige Alternative. Aber das stimmt nicht. Es gibt auch noch die jungen Leute, die die Revolution vorangetrieben haben. Es wäre also sinnvoll, wenn die USA diese Menschen unterstützten.

derStandard.at: Aber von den Straßen Ägyptens auf die politische Bühne ist es ein sehr großer Schritt.

Ziada: Das stimmt, und ich spreche aus eigener Erfahrung. Ich habe 2011 für das Parlament kandidiert, und ich bin gescheitert, weil meine Erfahrungen nur darin bestanden, eine Revolution durchzuführen und einen Diktator zu stürzen. Aber ich wusste nicht, wie man Politik macht, wie man Demokratie aufbaut.

Nun arbeiten wir daran, Revolutionäre in Politiker zu verwandeln. Viele Organisationen der Zivilgesellschaft bilden derzeit junge Menschen aus, um sie auf die Politik vorzubereiten.

derStandard.at: Wie sieht diese Ausbildung aus?

Ziada: Die Muslimbruderschaft und die Salafisten sind sehr gut organisiert. Um eine Wahl zu gewinnen, muss man Netzwerke aufbauen und einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichen. Denn wenn dich niemand kennt, wird dich auch keiner wählen. Wir arbeiten also vor allem an der Verbesserung der Organisation. Aber das dauert natürlich seine Zeit. Unser Ziel ist es, dass diese jungen Menschen in fünf Jahren eine realistische Chance auf einen Wahlsieg haben.

derStandard.at: Dann dürften Sie sich von der nächsten Wahl, die im Herbst stattfinden soll, nicht allzu viel erwarten.

Ziada: Ja, ich sehe diesem Wahltermin nicht sehr optimistisch entgegen. Die Muslimbruderschaft wird wieder die Mehrheit erringen. Ich hoffe zumindest, dass diese nicht mehr so groß ist wie bei der letzten Wahl.

derStandard.at: Sie sind ein großer Fan von Gene Sharps Buch "From Dictatorship to Democracy", haben seine Ideen auch in Ägypten verbreitet. Was schlägt er vor, um den Schritt von der Straße in die Politik zu schaffen? Und um eine Demokratie aufzubauen?

Ziada: Sharp geht von der Vorstellung aus, dass jede Regierung, jedes Regime gewisse Säulen hat, auf denen die jeweilige Macht aufbaut. Mubarak hatte seine Säulen der Macht, die er brauchte und die auch ihn brauchten, um weiter bestehen zu können. Wir müssen es nun schaffen, auch solche Machtsäulen aufzubauen. Bisher ist uns das nicht gelungen. Wir haben versucht, das Militär auf unsere Seite zu ziehen, die Polizei, und sind gescheitert. Stattdessen unterstützen sie jetzt die andere Seite.

derStandard.at: Apropos Mubarak: Viele Ägypter sehnen sich aufgrund der politischen Streitigkeiten und der wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach der "guten alten" Zeit. 

Ziada: Das sind vorwiegend ältere Menschen, die auf dem Land leben. Für sie ist wichtig, dass sie etwas zu essen haben, und nicht, ob sie in einer Diktatur oder in einer Demokratie leben. Ich verstehe sie, die derzeitige Situation in Ägypten ist sehr schwierig. Aber ich möchte klarstellen, dass das nicht das Ergebnis der Revolution ist. Die Revolution war unvermeidlich, sie musste irgendwann kommen.

Die Fehler kamen nach der Revolution. Wir waren idealistisch, wir waren naiv, wir wussten nichts über Politik. Wir sprechen hier von Jugendlichen, 17, 18 Jahre alt. Und da fand die Muslimbruderschaft eine gute Gelegenheit vor, die Revolution an sich zu reißen. Das müssen die Menschen verstehen, das müssen wir ihnen erklären. Und wenn sie etwas Geduld haben, werden sie bald das Land vorfinden, das ihnen die Revolution versprochen hat. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 10.6.2013)