Die Wände und die Decke der Intensivstation sind bunt bemalt. Die Patienten sollen beim Aufwachen aus dem Tiefschlaf eine angenehme Atmosphäre vorfinden.

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Wien - Bei einem bestimmten Ton des Klavierstücks ist der frühere Intensivpatient jedes Mal zusammengezuckt, wenn er sie gehört hat. Und die bruchstückhaften Erinnerungen an die Zeit im künstlichen Tiefschlaf waren mit einem Schlag wieder da. "Wir haben lange gemeinsam überlegt, was diese Reaktion auslösen könnte", erzählt die Intensivpflegerin Silke Tremmel. "Vielleicht war es das Geräusch, wenn die Infusionsflasche beim Wechseln leicht an den Metallständer anschlägt".

Posttraumatische Belastungsstörungen

Menschen, die Tage oder Wochen im künstlichen Tiefschlaf verbringen, können noch lange nach dem Aufenthalt im Spital unter Erinnerungslücken und Depressionen leiden, viele haben furchtbare Albträume. Und die vereinzelten Erinnerungen werden oft falsch interpretiert und sind dadurch beängstigend - was bis zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen kann.

Schreiben für die Patienten

Im Wiener Kaiser-Franz-Josef-Spital versuchen die Pfleger und Krankenschwestern der Abteilung für operative Intensivmedizin den Patienten mit einem "Intensivtagebuch" bei der Suche nach der verlorenen Zeit zu helfen - so wie es im skandinavischen Raum bereits seit den 1980er-Jahren praktiziert wird. Im Schnitt verbringen die Patienten zwei Wochen auf der Station.

Die kleine, gebundene Mappe enthält Fotos, Informationen zum Tagesablauf, ein medizinisches Glossar und handgeschriebene Einträge der Pfleger und Pflegerinnen: "Während der Operation benötigten Sie Medikament zur Stabilisierung Ihres Herz-Kreislaufs, daher verlegten wir Sie anschließen auf unsere Intensivstation für eine fachgerechte Überwachung und Behandlung. Derzeit benötigen Sie ein Beatmungsgerät und Medikamente gegen Schmerzen sowie für einen tiefen Schlaf. Ich hoffe, es geht Ihnen bald wieder besser, sodass wir Sie wieder aufwachen lassen können."

CD mit typischen Geräuschen

Auch eine CD mit den typischen Geräuschen wird samt einer Erklärung beigelegt - darauf sind etwa eine Beatmungsmaschine, das Auf- und Abschieben des Bettgitters, Händewaschen, das Öffnen von Verpackungsmaterial oder der Alarm eines Monitors zu hören. "Viele Patienten können sich aus der Zeit des Tiefschlafs nur an bestimmte Geräusche oder Halbsätze erinnern", erläutert der Pfleger Albert Krumpel, auf dessen Initiative das Projekt zurückgeht - die Aufnahmen sollen ebenfalls dazu beitragen, dass das Erlebte "besser verarbeitet und objektiviert werden kann".

Der Verschwiegenheitspflicht unterlegen

Für die Einträge, die in jeder Schicht aktualisiert werden, wurden klare Kriterien erstellt. Sie müssen chronologisch und nachvollziehbar sein, kritische Bemerkungen sind zu vermeiden, genauso wie Diagnosen. Die Datenschutzbeauftragte des Krankenanstaltenverbundes war ebenfalls eingebunden. "Die Patienten können sicher sein, dass die Aufzeichnungen der Verschwiegenheitspflicht unterliegen", sagt Krumpel. Doch nicht nur die Pfleger machen Einträge, auch die Angehörigen können mitschreiben. Krumpel: "Die Beschreibung des Alltags in der Familie kann den Patienten auch helfen, die Zeit besser zu verarbeiten."

Die meisten freuen sich, wenn sie das Tagebuch ausgehändigt bekommen, nachdem sie die Intensivstation verlassen haben. "Das ist oft sehr berührend", sagt Krumpel. Einige Patienten lehnen zunächst aber ab. Das Tagebuch wird für sie ein Jahr lang aufbewahrt. Und bisher haben es alle irgendwann später doch noch abgeholt. (Bettina Fernsebner-Kokert, DER STANDARD, 1./2.6.2013)