Ein unmögliches Liebespaar: Bürger Orgon (Gert Voss, li.) ist Tartuffe (Joachim Meyerhoff) blindlings ergeben. Es fragt sich nur, warum in der Spielfassung von Luc Bondy und Peter Stephan Jungk.

Foto: Ruth Walz

Wien - Einen Abend der Abschiede begeht man stilecht mit einem Stofftaschentuch. "Bye-bye and good Luc!" steht auf den Schnäuztüchern, die ein Sponsor auf den Sessellehnen des Akademietheaters ausgestreut hatte. Die Rührung sollte Molières Tartuffe gelten, der Abschiedsinszenierung von Luc Bondy als Festwochen-Intendant. Leider wollte sich keine rechte Ergriffenheit einstellen.

Dabei wäre die Abschiedstafel überreich gedeckt gewesen. Ein hohes, klinisch weißes Landhaus (Bühne: Richard Peduzzi) nennt der Bürger Orgon (Gert Voss) sein Eigen. Der Patriarch ist außer Haus. Die Gattin, der Schwager und die erwachsene Kinderschar verteilen sich um den Frühstückstisch. Das große, erstaunlich barsche Wort führt die Mutter im Rollstuhl (Gertraud Jesserer): Sie beklagt den Ungeist der Zeit. Putzsüchtig seien die Orgons, verderbt und seelenlos. Ihr ganzes Vertrauen setzt die rustikale Dame auf den unsichtbaren Mitbewohner, den heiligen Mann Tartuffe.

Es scheint nicht eben so, dass sich die Sippe die Worte der zürnenden Urmutter besonders zu Herzen nähme. Das Haus der Orgons gleicht den bürgerlichen Festungen, wie sie Filmregisseur Claude Chabrol zur Aufbewahrung wohlhabender Spießer gebaut hat. Es gibt Andachtswinkel, an der Wand hängen zahlreiche Kruzifixe. Die katzengewandte Madame Orgon (Johanna Wokalek) schützt gerne Migränen vor und verschwindet in der Ruhezone im ersten Stock. Die Welt der Orgons ist aus den Fugen. Man weiß nicht recht, warum.

Auftritt Gert Voss: Orgon betritt sein schmuckes Eigenheim wie ein Fremder. Die Ratschläge seiner Bedienten Dorine (Edith Clever) nimmt er wie Lebertran in Empfang. Clever gibt eine herbe, stolze Magd, die von García Lorca stammen könnte. Nur ins Spielen kommt sie mit Voss leider nicht.

Verzweifelte Liebe

Orgon ist nicht mehr Herr im eigenen Haus. Als Entthronter sitzt er auf dem Plüsch der Bank. Die Vorhaltungen seines aufgeklärten Schwagers (Philipp Hauß) quittiert er mit galliger Bitterkeit. Seine ganze Schönheit und Autorität schöpft dieser Verzweifelte aus seiner Liebe zu Tartuffe. "Der arme Mann", entfährt es ihm jammerläppisch, wenn die Magd wieder einmal den Heißhunger des Frömmlers beklagt. Der gealterte König liebt die Schlange, die er am eigenen Busen genährt hat. Voss' Leistung ist wunderbar. Sie segelt aber auch am Rest der Inszenierung vorüber.

Tartuffe (Joachim Meyerhoff) tritt erst im dritten Akt zum ersten Mal auf: ein ingeniöser Schachzug des großen Molière. Hier - und nur hier - ringt sich Bondy zur Überdeutlichkeit durch. Weil im hohen Wohnraum der Orgons rote und gelbe Vorhänge das Gemauschel dämpfen, sieht man zunächst nur Tartuffes Hand, die einem Knaben die Haare scheitelt.

Der Frömmler selbst ist von sachlicher Entschlossenheit. Er gesteht der Hausherrin ohne allzu lange Umschweife seine Leidenschaft, die sich in trotzig-stockenden Beschwörungen äußert. Dieser Tartuffe ist bestimmt kein "Schwein", sondern am ehesten ein armer Hund.

Nun hat Meyerhoff den Rollentyp des charmanten Neurotikers zur Perfektion gebracht. Die begehrenswerten Seiten dieses Zwänglers bleiben unbegreiflich. Seine sexuellen Übergriffe sind fiebrig und auch ein bisschen grotesk. Die erwachende Faszination Elmires (Wokalek) für diesen Vornehmtuer ist ein Irrwitz ohne stichhaltige Begründung.

Am Schluss - Tartuffes Versuch, die Familie zu ruinieren, ist erwartbar gescheitert - geht alles weiter wie zuvor. Die Familie Orgon kann daran gehen, Törtchen zu verzehren. Eben noch wollte Papa sein schüchternes Töchterchen (Adina Vetter) dem Tartuffe zur Frau geben. Die letzte Herbstglut des Patriarchen ist folgenlos verglost. So wie diese allzu unentschiedene Inszenierung. Pflichtschuldiger Applaus.  (Ronald Pohl, DER STANDARD, 31.5.2013)