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Drei bis sieben Prozent der Kinder leiden Schätzungen zufolge an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS.

Die Kinder, die zu Karin Koschitz kommen, haben oft schon einiges hinter sich. Überforderte Lehrer, Gleichaltrige, die sie ausgrenzen, die Erfahrung, dass sie in der Schule kaum Erfolgserlebnisse haben, egal wie sehr sie sich auch bemühen - und Eltern, die nicht mehr weiter wissen.

"Die Kinder leben mit dem Gefühl, dass sie einfach nichts so gut schaffen wie die anderen", beschreibt die Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Ambulanz am Rosenhügel den Leidensdruck ihrer jungen Patienten.

Genaue Zahlen gibt es nicht

Drei bis sieben Prozent der Kinder leiden Schätzungen zufolge an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Genaue Zahlen für Österreich gibt es nicht. Koschitz sagt, nur bei einem von zehn Kindern, die mit dem Verdacht auf ADHS zu ihr kommen, werde die Erkrankung tatsächlich diagnostiziert. Dabei handelt es sich um ein aufwändiges Verfahren. Das Kind wird ohne die Eltern psychiatrisch untersucht, Eltern und Lehrer werden befragt, wie sich das Kind beim Spielen und in der Schule verhält. Die Aufmerksamkeit wird überprüft, manchmal werden auch Ergotherapeuten und Logopäden hinzugezogen.

Aber nicht jede Verhaltensauffälligkeit ist gleich ADHS. Es sei nicht ganz von der Hand zu weisen, dass es sich um eine Modediagnose handle, sagt Ulla Konrad, die Präsidentin des Berufsverbands der Österreichischen Psychologen. "Ich will den Allgemeinmedizinern die Diagnosefähigkeit dafür nicht generell absprechen, aber sie dürfte nicht immer treffsicher sein." Denn die Versorgung, was die psychische Gesundheit von Kindern betrifft, ist in Österreich deutlich unterentwickelt (siehe Artikel rechts).

Gut getestete Medikamente

Ein Großteil der Kinder, die Koschitz am Rosenhügel behandelt, erhält auch Medikamente. Dennoch: Insgesamt werde ADHS zu wenig oft richtig medikamentös behandelt, befindet Gabriele Fischer von der Wiener Uni- Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie bezieht sich auf eine Erhebung der Medikamentenverschreibung bei der Sozialversicherung, die eine Arbeitsgruppe im Auftrag des Gesundheitsministeriums gemacht hat. Der zufolge erhalten nur 0,1 Prozent der Betroffenen geprüfte ADHS- Medikamente - nicht zuletzt wegen fehlender oder falscher Diagnosen.

Ein multiprofessioneller Therapieplan, in den neben Kindern und deren Eltern auch Lehrer und klinische Psychologen einbezogen werden sollen, ist für Fischer die erste Wahl; die weit verbreiteten Vorbehalte gegenüber Medikamenten teilt sie aber nicht: "Es stimmt, dass viele Medikamente für Kinder nicht klinisch geprüft sind.

Aber gerade auf ADHS- Medikamente, etwa Ritalin, trifft genau das Gegenteil zu." Und mit richtiger (medikamentöser) Therapie könne man einer Fülle von sozialen und psychischen Folgeproblemen vorbeugen: Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Drogensucht. ADHS wächst sich nicht aus, auch bei Erwachsenen gebe es eine Häufigkeit von zwei bis fünf Prozent, sagt Fischer. Oft würden sich Betroffene selbst mit Cannabis "therapieren", auch Kokain wirkt auf sie beruhigend.

Ritalin wirkt praktisch sofort

In einem kürzlich erschienenen Papier, das eine Gruppe von internationalen Forschern erstellt hat, wird aufgelistet, welchen Problemen man mit rechtzeitiger Therapie vorbeugen kann: So können Selbstwert und Sozialverhalten bei 80 bis 90 Prozent der Betroffenen verbessert werden, auch beim Suchtmittelkonsum wird das Risiko deutlich geringer.

Vor allem Ritalin wirkt praktisch sofort und ist laut Medizinerin Koschitz "das am besten zugeschnittene Medikament überhaupt". Früher habe man Ritalin am Wochenende oft abgesetzt, wenn die Kinder nicht zur Schule gehen. Die Lehrmeinung habe sich diesbezüglich geändert, "weil es ja nicht nur darum geht, dass die Kinder in der Schule klarkommen, sie erleben sich ja auch sozial ganz anders". Allerdings werde in den Sommerferien jeweils geschaut, wie es ohne Ritalin läuft.

Psychologin Konrad weist freilich darauf hin, dass die Medikamentengabe nicht immer rationalen Kriterien folge. So habe es 2009 plötzlich eine Steigerung um 20 Prozent gegeben, weil ein neues Medikament auf den Markt gekommen sei. Ob das mit der Pharmaindustrie zu tun habe? Konrad: "Ich würde sagen, es gab zumindest mehr Aufmerksamkeit bei den Ärzten für das Medikament."

Eine Ursache für ADHS ist genetische Disposition, aber auch Rauchen in der Schwangerschaft kann mitverantwortlich sein. Die Suchtmedizinerin Fischer wehrt sich dagegen, "immer den Frauen die Schuld in die Schuhe zu schieben". Man müsse ihnen dabei helfen, den Ausstieg aus der Nikotinabhängigkeit zu schaffen, wenn sie Mütter werden, meint Fischer. "Ansonsten sehe ich die Kinder als Erwachsene leider häufig in meinem Wirkungsbereich wieder." (Andrea Heigl; Bettina Fernsebner-Kokert, DER STANDARD, 29.5.2013)