Puzzle-Arbeit für Forscher: Fragment eines religiösen Textes, gefunden in der Genizah der Ben-Esra-Synagoge von Kairo.

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Was tun, wenn Forschungsmaterial zu einem Thema verstreut archiviert liegt, wie fügt man es zusammen, um zu einem ganzen Bild zu kommen? Vor diese Frage gestellt sehen sich seit Jahrzehnten Wissenschafter, die sich mit den Fragmenten der 1890 in Kairo gefundenen Geniza beschäftigen. Doch jetzt bekommen sie Unterstützung durch ein auf künstlicher Intelligenz basierendes Computerprogramm.

Schriften dürfen nicht vernichtet werden

Genizas existierten in vielen alten Synagogen. In abgeschiedenen Räumen wurden unbrauchbar gewordene Schriften abgelegt, die nach religiöser Vorschrift nicht vernichtet werden dürfen. In großer Zahl landete dort auch handschriftliches Material wie Rechnungen oder Notizbücher.

Die wohl berühmteste Geniza befand sich in Kairo und wurde 1890 bei einer Renovierung der Ben-Esra-Synagoge entdeckt. 300.000 Schriftstücke ab dem Jahr 800 bis ins 19. Jahrhundert wurden gefunden, die auch viel über das soziokulturelle Leben der damaligen jüdischen Bevölkerung berichten. Die Originale der Kairoer Geniza liegen heute zerstreut in 67 Bibliotheken und privaten Sammlungen. Allein in der Taylor-Schechter Sammlung der Unibibliothek Cambridge finden sich rund 193.000 Dokumente. An vielen der Fundstücke hat der Zahn der Zeit teilweise kräftig genagt.

Fragmente aus dem Gedächtnis identifizieren

Jahrelang waren Forscher darauf angewiesen, die Fragmente mehr oder weniger aus dem Gedächtnis zu identifizieren. Ab 1985 wurden dann im Genzia Project der Universität Cambridge begonnen, eine Datenbank mit den Fundstücken aufzubauen und die Dokumente, von denen manche nur kleine Papierschnipsel sind, soweit möglich in digitalisierter Form zur Verfügung zu stellen. Hinzu kamen mehr als 450.000 Fotografien, die gemeinsam mit dem anderen Material auf einer Website durchsucht werden können.

Computernetz vergleicht Dokumente

An der Universität von Tel Aviv läuft seit 16. Mai ein spannendes Projekt, bei dem mehr als 100 vernetzte Rechner mithilfe eines aufwändigen Artifical-Intelligence-Programms rund 158.000 Dokumente miteinander vergleichen. "In einer Stunde kann das Computernetz zehn Millionen Stück paarweise vergleichen - das ist eine Menge, die kein Mensch in seinem Leben jemals schaffen würde", zitiert New York Times Talmud-Forscher und Computerexperten Roni Shweka.

Derartige Unterfangen im Rahmen des Geniza-Projekts dienen nicht nur dazu, die Fragmente einem noch größeren Kreis an Interessierten zugänglich zu machen, sondern mit Computerhilfe auch neue Forschungsfragen aufzuwerfen. Computertechnik könnte genutzt werden, um auf berührungsempfindlichen Endgeräten Teile zu vergrößern, zu drehen und zu verschieben, um zu sehen, ob sie ineinander passen, meint Yaacov Choueka, emeritierter Informatikprofessor und Leiter des Geniza-Projekts in Jerusalem. Laien könnten einen Zugang zu Genizah-Funden zum Beispiel in Form einer App erhalten, mit der sie Fragmente zusammenpuzzeln können.

Grenzen

Doch alles kann Forschungskollege Computer nicht, meint Historikerin Marina Rustow von der John Hopkins University. Wer die Genizah-Fragmente wirklich verstehen wolle, müsse die Papyrusteile auch im direkten Sinn "begreifen". (kat, DER STANDARD, 28.5.2013)