Bild nicht mehr verfügbar.

Der Großmufti ("reis ul-ulema") von Bosnien-Herzegowina, Husein Kavazovic wurde im September 2012 in der Gazi-Husrev-Beg- Moschee mit 240 von 382 Stimmen gewählt.

Foto: REUTERS/Dado Ruvic

STANDARD: Sie haben einmal gesagt: Der Mensch hat sich - seit seinen Anfängen - mithilfe des anderen Menschen kennengelernt. Welche Rolle hat die Islamische Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina (BiH), wenn es darum geht, die Gesellschaft in diesem zerrissenen Staat zu einen?

Kavazovic: Es stimmt, dass sich der Mensch dem Menschen zuwenden soll. Deswegen fordere ich alle Menschen auf, einander ins Gesicht zu schauen, denn wir können alle Sorgen, Ängste, Freuden, Trauer und alles, was der andere Mensch fühlt, dem Gesicht und den Augen entnehmen. Wir in der ­Islamischen Gemeinschaft von BiH bestehen auf der Fähigkeit, miteinander im Frieden zu leben, ungeachtet dessen, ob der andere Mensch ein Christ, ein Muslim, ein Jude ist oder sich zu etwas anderem bekennt. Dieser Planet ist multiethnisch und multireligiös. Das Gegenteil dessen wäre eine Hölle. Das Osmanische Reich und die österreichisch-ungarische Monarchie haben uns gezeigt, wie es möglich ist, gemeinsam zu leben und gleiche Werte zu teilen. Das Osmanische Imperium hat Juden gerettet, hat sie bewahrt und ihnen eine Chance gegeben. Und die österreichisch-ungarische Monarchie hat die bosnischen Muslime bewahrt und ihnen eine Chance gegeben, damit sie sich als Teil des europäischen Milieus fühlen.

STANDARD: Der bosnische Staat ist aber heute zerrissen und instabil. Können die religiösen Gemeinschaften überhaupt einen Beitrag dazu leisten, dass dieser Staat besser funktioniert, oder sollen sie sich lieber nicht einmischen?

Kavazovic: Wir sind ein säkularer Staat, eine säkulare Gesellschaft. Unsere Position ist ganz klar: Wir finden, dass sich die religiösen Gemeinschaften in die Staatsangelegenheiten gar nicht einmischen sollen. BiH ist aber ein Land, auf das viele versuchen, Einfluss zu nehmen, auf dass es Ansprüche gibt, sowohl vom Osten als auch vom Westen. Wir möchten aber nur unsere eigene Ruhe. Seit den 1990er-Jahren hatten wir keinen ruhigen Schlaf.

STANDARD: Der Einfluss von außen ist das eigentliche Problem?

Kavazovic: Ja, die Störung der Souveränität des Landes, und dass es so oft als Ziel zum Abschießen genommen wird. Nach allen Verbrechen, die in diesem Lande begangen wurden, hat die internationale Gemeinschaft der Aufteilung des Landes zugestimmt, und sie hat uns, alle Bosnier und Herzegowiner, die ihr Land mögen, dazu gezwungen, dieser Aufteilung auch zuzustimmen. Die EU hat die Pflicht, BiH in ihre Umarmung aufzunehmen und es zu schützen.

STANDARD: Heuer hat der serbische Präsident Tomislav Nikolic sich selbst und den Präsidenten des bosnischen Landesteils Republika Srpska, Milorad Dodik, die "Führer der beiden serbischen Staaten"  genannt. Dodik hat vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal den angeklagten Exführer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic verteidigt. Sie selbst haben einen Brief an UN-Generalsekretär Ban Ki-moon geschrieben, weil eine der "Mütter von Srebrenica"  bei der UN-Debatte zum Kriegsverbrechertribunal, die der Präsident der Generalversammlung, Vuk Jeremic, initiiert hat, des Saales verwiesen wurde. Wie beurteilen Sie dies alles?

Kavazovic: Wenn es um die Aussage von Nikolic über "die zwei serbischen Staaten"  geht, so wird er sicherlich Serbien und die Vojvodina gemeint haben. Dodik ist 2003 und jetzt 2013 als Zeuge beim ICTY aufgetreten. Eine seiner Zeugenaussagen war gegen Karadzic und die andere für Karadzic. In BiH gibt es jetzt ein bisschen Konfusion, welcher Dodik jetzt authentisch ist, der aus dem Jahr 2003 oder der von diesem Jahr. Dieser Auftritt von Herrn Jeremic war ein Versuch, die Werte des Haager Tribunals zu bestreiten und zu vermindern. Ich glaube allerdings, dass es sich bei diesem Benehmen Serbiens um das letzte Zittern handelt. Ich möchte aber unterstreichen, dass ich an das serbische Volk glaube. In diesem Volk gibt es sehr gute, edle Menschen, die in der Geschichte als positive Erscheinungen durch viele positive Errungenschaften verzeichnet worden sind. Die Tragödie von Srebrenica war der letzte Schritt in der Aggression auf BiH, aber eigentlich ist Srebrenica viel wichtiger für das serbische Volk als für BiH, denn wann immer sich das serbische Volk im Spiegel sehen will, muss es sich auch mit der Srebrenica-Tragödie auseinandersetzen.

STANDARD: Kann der Beitritt Kroatiens zur EU trotz der massiven Wirtschaftskrise einen positiven Einfluss haben?

Kavazovic: Uns freuen der Erfolg Kroatiens und der kroatische Beitritt zur EU. Das ist auch eine Chance für BiH. Ich bin der Leiter der Muslime sowohl in Kroatien als auch von jenen in Slowenien. In diesem Sinne haben wir jetzt schon einen Teil unseres Körpers in der EU. Die Islamische Gemeinschaft ist eine Körperschaft in der ganzen Region, und wir möchten den Muslimen ungeachtet der Staatsgrenzen helfen. Sie hat eine Legitimität von Istanbul, von Shejhul Islam, und die andere vom Kaiser Franz Joseph. Die Institution des "reis ul-ulema" (Großmufti) ist in der Monarchie mit dem Ziel der Integration aller Muslime entstanden.

Die bosnischen Muslime haben in der Monarchie die europäische Kultur aufgenommen. In diesem Sinne hat BiH eine ganz besondere Rolle für die EU. Es soll nicht unbedingt als ein Krisengebiet oder Brennpunkt betrachtet werden, sondern man sollte sich aus der Perspektive der EU mehr der zivilisatorischen Komponente zuwenden. Die Wirtschaftskrise ist etwas, was es immer wieder gibt und gegeben hat, und man soll das nicht mit dem zivilisatorischen Aspekt vermischen. Europa sollte seine Muslime bewahren, sie als eigene Kinder betrachten und sich um sie kümmern.

STANDARD: Welche Rolle soll die Islamische Gemeinschaft im Fall von Radikalisierungen einnehmen?

Kavazovic: Die Islamische Gemeinschaft soll den ursprünglichen Werten des Islam als Religion gewidmet sein. Alle Ismen, die innerhalb des Islam, aber auch innerhalb von anderen Religionen in Erscheinung traten, sind etwas, was vom Wesen des Islam abweicht. Wir sollen Werte lehren, die die anderen und die Unterschiedlichen beachten. Die ganze Zeit haben wir voneinander gelernt: Muslime von Christen und umgekehrt und beide von Juden. Die Islamische Gemeinschaft braucht sich nicht mit der Tagespolitik und mit Staatsangelegenheiten zu beschäftigen. (Adelheid Wölfl, DER STANDARD, 28.5.2013)