2008 war kein gutes Jahr für Christa Wolf; monatelang lag sie in Krankenhäusern, betäubt von Schmerzmitteln. Am Ende wusste die ostdeutsche Autorin selbst nicht mehr, ob sie nun sechs oder sieben Operationen über sich ergehen lassen musste. In der Erinnerung sah sie sich immer nur auf einer Trage durch Gänge geschoben werden. Das, was draußen in der Welt geschah, die Finanzkrise, die Anschläge in Mumbai, registrierte sie zwar - doch zum ersten Mal in ihrem Leben bezog sie es nicht mehr auf sich: "Wenn ich mein Gefühl in Worte fassen sollte, müßte ich wohl sagen: Das alles betrifft mich nicht mehr. Meine Zeit ist vorbei. Ich sehe den Ereignissen zu. Mit 80 ist man nicht mehr dabei. Dies ist nicht mehr meine Zeit."

Es ist eine der wohl erschütterndsten Passagen in Wolfs Werk. Sogar den 27. September, ihren "Tag des Jahres", verpasste sie 2008 und holte ihn erst später nach. Bis dahin hatte Wolf Jahr für Jahr jenen Tag protokolliert, seit 1960 - und nach jenem Krankenhausjahr noch bis zu ihrem Tod im Jahr 2011. Ein einmaliges Schreib- und Lebensexperiment, das die Autorin der Vergänglichkeit, "diesem unaufhaltsamen Verlust von Dasein", trotzig entgegengesetzte. Dabei war das einst von Maxim Gorki festgelegte Datum bewusst willkürlich gewählt: Der Zufall sollte als Katalysator dafür dienen, dem Rätsel des Lebens auf die Spur zu kommen.

Lange nur für Schublade geschrieben, stellen die gesammelten Tagesprotokolle im Rückblick eines ihrer Hauptwerke dar. Als Zeugnis jahrzehntelang gelebter Zeitgenossenschaft ermöglichen sie dem Leser eine intensive deutsch-deutsche Zeitreise - und erzählen zugleich eine berührende Schriftstellerbiografie in Fragmenten. Denn jedes Kapitel beschreibt ja nur einen Tag, dazwischen aber liegen stets 364 andere, nicht beschriebene. Wobei programmgemäß scheinbar banale Alltage neben geschichtsträchtigen Tagen stehen, wie dem 27. September 1989, wenige Tage nach der Grenzöffnung in Ungarn.

Nicht minder bedeutend beginnt nun die Fortsetzung, mit den Aufzeichnungen der Jahre 2001 bis 2011. Nur sechzehn Tage nach 9/11 empfindet sie den Terror als einen "Riß im Gewebe der Zeit" - und den so verletzlichen, von ihr oft beschriebenen Alltag mit all seinen Ritualen als kostbarer denn je. Schon da ermahnt sie sich zur Skepsis gegenüber der US-Regierung - fünf Jahre später erscheint ihr George W. Bush als " ein ungleich schlimmerer Verbrecher (...), als die wenig mächtigen Obrigen in der DDR es je hätten sein können."

"Darüber wäre zu schreiben, denke ich. - Doch wozu?" Die Frage nach dem Sinn ihres Schreibens stellt sich Christa Wolf immer wieder. Ihr letzter großer Roman Stadt der Engel droht zu scheitern, der gigantische Stoff will und will nicht zur Form gerinnen, einmal bezeichnet sie das Manuskript als "angstbesetzt".

Ausgebrannt fühlt sich die Autorin - und fremd in jenem neuen Deutschland, dem "Land des fortschreitenden Sozialabbaus". Hinzu kommen Krankheit, Schmerzen und Alter: Schon der morgendliche Gang ins Bad ist von der Frage "Wie lange noch?" beherrscht. Umso kostbarer das Zusammenleben mit ihrem Ehemann Gerhard, der einkauft, kocht, sie pflegt. Am 27. September 2010, ein Jahr vor ihrem Tod, notiert Christa Wolf: "Immer nehme ich mir vor, jeden Tag, jede Stunde dieses Lebens ohne Vorbehalt anzunehmen, und immer unterfüttert der Gedanke an den Tod fast jede Stunde. Und das Wissen, wie schmal der Zeitraum wird, der mir, uns noch gegeben ist. (...) Oft am Tag blicke ich auf Gerd, was er gerade macht, seinen Gesichtsausdruck, seine Haltung, wer etwas sagt. Wie er, manchmal triumphierend, zum Abendbrot ein überraschendes Gericht hereinbringt. Ich horche, ob ich ihn atmen höre. Ich kann ihn ja nicht wecken, um ihm zu sagen, wie ich ihn liebe." Geheiratet hatten die beiden 1951 - dass Wolf Stadt der Engel am Ende doch noch vollenden konnte, lag nicht zuletzt an dieser Liebe ihres Lebens. (Oliver Pfohlmann, Album, DER STANDARD, 25./26.5.2013)