Um das Flugverhalten der Vögel studieren zu können, haben Forscher einzelne Exemplare mit GPS-Sendern versehen.

Foto: Olivier Duriez / CEFE-UMR

Sommer auf den Karstplateaus Grands Causses am Südrand des französischen Massif central: Ein warmes Lüftchen weht über die Wiesen, Grillen zirpen, und am Himmel kreist ein riesiger Vogel. Ein Gänsegeier sucht nach Futter. Mit seiner Spannweite von mehr als zwei Metern weiß er die Thermik perfekt zu nutzen.

Der Anblick dieser Vögel ist indes keine Selbstverständlichkeit. Noch vor einigen Jahrzehnten galt die Art dort als ausgestorben. Giftköder und Abschüsse hatten die Population zum Kollabieren gebracht. 1980 begannen Naturschützer mit der Wiederansiedlung. In sechs Jahren wurden im Bereich der Grands Causses insgesamt 60 Gänsegeierpaare freigelassen.

Riesige Mengen toten Fleisches

Inzwischen ist der regionale Bestand auf weit über 1000 Exemplare angewachsen, darunter knapp 400 Brutpaare. Die genaue Zahl der Vögel ist schwer zu ermitteln, weil es einen regen Austausch mit Gänsegeierpopulationen in den Pyrenäen und den Westalpen gibt, wo ebenfalls ein Wiederansiedlungsprojekt stattfand, erklärt der Biologe Olivier Duriez gegenüber dem Standard.

Dieser Erfolg basiert nicht nur auf strengen Schutzmaßnahmen. Wichtiger ist die Sicherung des Nahrungsangebots - frei zugängliche Kadaver. Und daran mangelt es auf den Grands Causses nicht. Die Region ist ein traditionelles Schafzuchtgebiet. In den dorti-gen Départements leben an die 400.000 solcher Wiederkäuer, erläutert Duriez.

Die Schafe verbringen ihr Leben weitgehend im freien Feld und sterben oft auch dort. Die natürliche jährliche Sterblichkeit beträgt etwa vier Prozent. Eine riesige Menge totes Fleisch. Den Landwirten ist es jedoch nicht gestattet, die Kadaver an Ort und Stelle liegen zu lassen. Stattdessen können sie tote Nutztiere an ausgewiesene Geierfutterplätze bringen, eine äußerst effiziente Entsorgungslösung, wie Duriez betont. " Die Geier erledigen das in ungefähr einer Stunde." Der größte Teil eines Schafes sei sogar schon nach 20 Minuten gefressen.

Schutz gegen Angreifer

Bis die Vögel eintreffen, kann etwas Zeit vergehen. Sie sind scheu und vorsichtig, weil sie nicht so schnell vom Boden aufsteigen können, erklärt Duriez. Sie schauen sich deshalb genau um, bevor sie landen. Ihre Ernährungsstrategie beruht auf einer besonderen Form von Teamarbeit.

Einzeln fliegend suchen die Tiere systematisch die Landschaft ab und behalten dabei auch ihre Artgenossen im Auge - über eine Entfernung von Kilometern. Sobald einer von ihnen nieder-streicht, ziehen andere nach. So kommen schnell bis zu fünfzig Vögel zusammen. Zum einen lässt sich der Kadaver so schneller und leichter zerlegen, zum anderen bietet die Gruppe Schutz gegen mögliche Angreifer.

Dank der kostenlosen Abfallentsorgung sind viele Landwirte der Grands Causses zu Geierfans geworden. "Die Tiere sind eine der touristischen Hauptattraktionen der Region", berichtet Duriez. Aber es werden Proteststimmen laut. Sie fordern, die noch immer wachsende Population einzudämmen. Eine logische Begründung dafür gibt es nicht. Duriez glaubt, dass manche Menschen sich nur schwer an den Anblick von Geiern gewöhnen können.

Beobachten mittels GPS

Den Artenschützern wird vorgehalten, den Geierbestand durch Zufütterung künstlich in die Höhe zu treiben. Duriez weist diese Behauptung zurück: " Was wir tun, ist die Wiederherstellung einer uralten Beziehung zwischen Geiern und Bauern." Dennoch untersuchen der an der Universität Montpellier tätige Biologe und seine Kollegen genau, ob sich das Verhalten der Gänsegeier durch die Kadaverablage an festen Futterplätzen ändert. Die Forscher haben mehrere Vögel mit GPS-Sendern ausgestattet. So können sie deren Bewegungen verfolgen.

Erste Studienergebnisse zeigen: Die Gänsegeier der Grands Causses steuern bei ihren Flügen in der Tat bevorzugt die bekannten Futterstellen an, vor allem dann, wenn die Flugbedingungen wegen schlechten Wetters ungünstig sind oder das Kadaverangebot knapp ist. In besseren Zeiten jedoch unternehmen die Tiere auch ausgiebige Streifzüge über offenem Gelände. Ihr natürliches Suchverhalten haben sie offenbar nicht verloren, sie passen sich vielmehr den aktuellen Bedingungen an.

Gänsegeier wurden in den vergangenen Jahren auch häufiger über österreichischem Territorium gesichtet. "Sie haben einen unglaublichen Aktionsradius", sagt Geierexperte Richard Zink von der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Einzelne Exemplare hat man sogar schon am Neusiedler See und an der Hohen Wand beobachtet.

Arbeitsteilung beim Fressen

Am häufigsten treten die Geier im Nationalpark Hohe Tauern sowie in Südkärnten auf. Dort finden sie genug Nahrung: abgestürzte Schafe, ab und zu Rinder, und natürlich Gämsen und Hirsche. In den Hohen Tauern sind es im Sommer vor allem abschmelzende Lawinenkegel mit verunglückten Wildtieren, die viel Nahrung bieten, sagt Zink. Derzeit sieht es aber nicht danach aus, dass sich Gänsegeier in den Ostalpen zahlreich zum Brüten niederlassen, meint Zink. Fraglich sei, ob die Art hier regelmäßig Brutvogel war.

Aber auch für andere Geierspezies gäbe es genug Futter. Die Vögel praktizieren bei der Tierkörperbeseitigung eine Art Arbeitsteilung. "Der Gänsegeier ist mit seinem kräftigen Schnabel in der Lage, Kadaver zu öffnen." Und während er vor allem Weiches frisst, verzehrt zum Beispiel der Mönchsgeier auch zähere Überreste wie Ohren, Haut und Sehnen. Was irgendwann übrig bleibt, mundet den Bartgeiern, die auf das Zertrümmern und Verspeisen von Knochen spezialisiert sind. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 22.5.2013)