Wenn die Augen zu tasten beginnen und die Hände sehen lernen: Beim anatomischen Modellierkurs für Chirurgen im Kunsthistorischen Museum in Wien wird der OP- gegen den Werkstattkittel getauscht

Mai 2013, ein Atelier im Erdgeschoß des kunsthistorischen Museums (KHM) in Wien. Durch diese Tür darf nur ein Grüppchen ausgewählter Chirurgen aus aller Welt ...

Foto: derStandard.at/tinsobin

Aus Südamerika, den USA, Asien und Europa sind sie angereist, um für drei Tage den OP- gegen den Werkstattkittel zu tauschen. "Anatomisches Modellieren & Zeichnen für Chirurgen", Untertitel: "Wenn die Augen zu tasten beginnen und die Hände sehen lernen", nennt sich die Kursreihe, die Wolfgang Metka, Facharzt für Plastische Chirurgie, vor drei Jahren initiiert hat und die er gemeinsam mit dem KHM unter der künstlerischen Leitung der Bildhauerin und Kunstvermittlerin Ilona Neuffer-Hoffmann organisiert.

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In dem weitläufigen Raum formen 24 Chirurgenhände aus aller Welt Ton zu Büsten. Im Zuge des Workshops sollen die Mediziner ihre künstlerischen Fähigkeiten erweitern. Was diese Verbindung von Chirurgie und künstlerischer Arbeit bringen soll? "Vor allem das musische Erkennen von Formen und die haptische Erfahrung sind wichtig für Chirurgen, die täglich mit Körperformen zu tun haben", sagt Wolfgang Metka. Mit dem Kurs möchte er, der selbst auf eine künstlerische Ausbildung zurückblicken kann, im Geist von Oskar Kokoschkas "Schule des Sehens" arbeiten.

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Bevor es aber an die Arbeit mit Ton geht, lautet die erste Übung: "Skizzieren Sie Ihr Gegenüber." Die meisten "Schüler" gehen nach alter Gewohnheit vor, stricheln vorsichtig mit dem Bleistift Details wie Nase, Augen, Brille (vgl. oberste Reihe). "Der Mensch gegenüber wird zuerst mit den Augen abgetastet. Im weiteren Verlauf kommen wir dahin, ihn mit den Händen abzutasten. Der Stift bildet bereits ein Distanz-Element. Kohle ist näher am Modellieren dran", sagt Ilona Neuffer-Hoffmann. Zu dieser wird im nächsten Schritt gegriffen.

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"Es gilt, das Gewohnte auszublenden, weniger aufs Blatt Papier zu schauen und mehr das Gegenüber und seine Form wahrzunehmen", so Neuffer-Hoffmann. Die bislang gewohnte Vorgangsweise ändert sich, denn nun wird zuerst mit dem Groben begonnen. Erst später kommen Details wie Augen, Nase, Ohren ins Spiel. So wie ein Architekt nicht mit den Fenstern, sondern mit dem Fundament beginnt.

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Als zweite Übung tasten die Kursteilnehmer mit verbundenen Augen Steine ab und formen diese - ebenfalls mit verbundenen Augen - aus ihrer Erinnerung nach. Dieselbe Übung folgt mit Knochen. Sind Stein und Knochen nachgebildet, gilt es, sie wieder "blind" dem jeweiligen Vorbild zuzuordnen. "Das hat in dieser Gruppe zu hundert Prozent funktioniert", ist Neuffer-Hoffmann überrascht. Diese Übung ist ein weiterer Schritt, um den vorwiegend auf ihren Sehsinn fixierten Chirurgen zu vermitteln, ihrem Tastsinn mehr zu vertrauen.

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Nach dem Ertasten und Formen von Steinen und Knochen wird die Form eines menschlichen Kopfes in Angriff genommen. "Ich war nicht betrunken, als ich dieses Modell gebaut habe", schickt Neuffer-Hoffmann voraus, "aber es ist nun einmal so, dass der menschliche Kopf nicht gerade auf den Schultern sitzt. Der Hals ist schief." Mit Schultern und Nacken soll begonnen werden, darauf bauen die Chirurgen dann den Kopf auf.

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"Ich will keine Nase, keine Augen und keinen Mund sehen", führt die Kursleiterin ihre Schüler weg vom Detaildenken und vermittelt anatomisches Basiswissen: Der vertikale Kopfumfang entspricht exakt dem horizontalen Kopfumfang. Das ist bei jedem Menschen so. "Urprozesse", die die Chirurgen tagtäglich in ihrem Beruf ausübten, könnten hier in einem ganzheitlichen Ansatz erfahren werden, denn "plastische Chirurgen haben meistens mit Details des menschlichen Körpers zu tun. Sie sind Spezialisten für Mund, Nase oder Kinn", so Neuffer-Hoffmann. "Hier machen sie die Erfahrung, von unten, an der Basis zu beginnen."

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Wolfgang Metka lässt aus dem Nacken einen Kopf wachsen. Als (laut Eigendefinition) "Gehirn bei der Sache" nimmt er selbst an den von ihm initiierten Workshops teil. Für den Chirurgen bedeutet jeder seiner Kurse aktives Lernen: "Ich arbeite laufend daran, meinen Zugang zu Körperformen zu perfektionieren." Er beobachtet, modelliert, verbessert und genießt den geschützten Raum im Atelier. Ausgangspunkt für die Workshops war ein Ausstellungsbesuch in der Albertina. Dabei wurde vermittelt, dass ein Tischler, der im Biedermeier Meister sein wollte, zu seinen Handwerks­jahren noch ein halbes Jahr Kunstakademie nachweisen musste. "Warum gilt das nicht auch für Ästhetische Chirurgie?", fragte sich Metka und zog den Schluss: "Uns ist das menschliche Material weniger wert." Die Idee, Chirurgie mit Kunst zu verbinden und den Kollegen praktisch zu vermitteln, war geboren.

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Metka ist die Verknüpfung von Chirurgie und Kunst vertraut: Als Student lernte er bei Künstlern wie Kokoschka, Picasso und Szyszkowitz. Er entschied sich für die Chirurgie, blieb der Kunst aber verbunden. Die Auseinandersetzung mit Formen, Proportionen und Ästhetik begleitet ihn in allen Lebenssituationen. "Man begreift ganzheitlich und punktuell, taktil und visuell, prozesshaft und technologisch und findet völlig neue Zugänge und Erfahrungsmöglichkeiten in der Arbeit mit den Patienten", erklärt Metka den Mehrwert des Workshops.

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Den heute weit verbreiteten Trend zu Schönheitsoperationen vom Fließband bezeichnet Metka als "McDonald's-Chirurgie". "Dabei kann durchaus auch etwas Gutes herauskommen, aber es ist immer das Gleiche", analysiert er die Ergebnisse. Dem gegenüber stehe die Kunst der Schönheitschirurgie. "Wenn ich vor ein paar Jahren erzählt habe, dass ich die ästhetische Chirurgie als Kunst betrachte, hieß es immer wieder, 'der spinnt'", erzählt er. Heute sind seine Kurse ausgebucht. So ist Pierre-Francois Fournier, Metkas Lehrmeister und Vorreiter ästhetischer Chirurgie, bereits zum zweiten Mal aus Frankreich angereist und mit 89 Jahren der älteste Teilnehmer ...

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... und auch der erfahrenste, wie seine Büste unschwer erkennen lässt.

"Wir werden nicht in einer Woche aus den Teilnehmern Michelangelos machen, es geht um den Kick, die Welt und das Leben aus künstlerischer Perspektive zu betrachten", erklärt Metka. Das verändere die Sicht der Welt, und es sei wie beim Fahrradfahren: Auch wenn man es lange nicht praktiziere, verlerne man es nie.

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Bei der Arbeit am Kopf wird das Fühlen sichtbar. Neuffer-Hoffmann beschreibt die Entwicklung, die die Kursteilnehmer durchlaufen: "Sehsinn und Tastsinn kommen in einer gleichwertigen Form zu einer Synthese zusammen. Ziel ist, dass die Hände zu sehen und die Augen zu greifen beginnen. Aber nicht vom Kopf ausgehend."

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Ob das anatomische Skizzieren und Modellieren auch einen Mehrwert für die Kommunikation zwischen Arzt und Patient mit sich bringt? "Es handelt sich um intelligente Chirurgie", erklärt Metka am Beispiel des Skizzierens. "Man lernt, genauer hinzuschauen, kann mit einer Zeichnung einem Patienten vor Augen führen, was der Stand der Dinge ist. Man kann besser gemeinsam mit ihm erarbeiten, was nötig ist, aber auch, was nicht nötig ist."

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Der nächste Workshop "Anatomisches Modellieren für Chirurgen" findet von 3. bis 6. Oktober, der Workshop "Skizzieren für Chirurgen" von 13. bis 15. Dezember im Kunsthistorischen Museum Wien statt. (Eva Tinsobin, derStandard.at, 4.6.2013)

Informationen und Anmeldung: surgery-art.com

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