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Histrionische Persönlichkeiten erfinden sich immer wieder neu.

Ihre Welt ist eine imaginierte oder auch reale Bühne. Mit theatralischen Inszenierungen und verführerisch provokantem Gehabe ziehen sie die Aufmerksamkeit anderer auf sich. "Hysteriker" nennt sie der Volksmund abwertend, Psychiater sprechen von histrionischen Persönlichkeiten. Krank sind Menschen mit solchen Verhaltensweisen aber noch nicht.

"Histrionische Symptome bekommen erst Krankheitswert, wenn die Person selbst oder die Umwelt darunter leidet", sagt Stephan Doering, Leiter Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie an der Medizinischen Universität in Wien. So selbstbewusst Menschen mit einer histrionischen Persönlichkeitsstörung nach außen hin wirken, so wenig geliebt und wahrgenommen fühlen sie sich von ihrer Umwelt tatsächlich. Durch ihre gnadenlose Selbstkritik sind sie weder ihren eigenen noch den Erwartungen anderer gewachsen. Die Angst vor Zurückweisung ist permanent präsent, die Dramatik ihres Auftretens resultiert aus der Sehnsucht nach Zuwendung und Liebe. Dabei gehen diese Menschen auch mit ihrem Aussehen hart ins Gericht, sind oft mit ihrem Körper unzufrieden, auch wenn dieser anderen attraktiv erscheint.

Die hysterische Frau

Die "Hysterie" fasziniert die Menschheit schon seit Jahrtausenden. Als Frauenkrankheit hat sie ihren Ursprung in der griechischen Antike. Die Vorstellung damals: Der weibliche Uterus (hystera) wandert durch den Körper auf der Suche nach sexueller Befriedigung. Sämtliche Organe bringt die Reise der Gebärmutter aus dem Lot und verursacht die hysterischen Symptome.

Im Mittelalter galten Frauen mit hysterischen Symptomen als vom Teufel besessen. In der patriarchalischen Kultur des 19. Jahrhunderts wurden Frauen, die gegen ihre Rolle als unterwürfiges Geschlecht rebellierten, als hysterisch abgetan und auch "therapiert".

Freud erst brachte die Hysterie in einen psychoanalytischen Kontext. Er ging davon aus, dass die Symptome in direktem Zusammenhang mit erlebten psychischen Traumata stehen. "Wir trennen heute zwischen der histrionischen Persönlichkeitsstörung und den von Freud beschriebenen hysterischen Symptomen, die wir als Konversionsstörungen bezeichnen", erklärt Doering den Zugang zur "Hysterie" aus heutiger psychiatrischer Sicht. Unter Konversion wird die Umsetzung eines psychischen Konfliktes in körperliche Symptome verstanden.

Kindliche Entwicklung

"Der Kern einer histrionischen Pathologie ist ein ausgeprägtes Selbstwertproblem, genauer gesagt, die Angst, als Mann oder Frau nicht liebenswert zu sein", sagt Doering. Die Ursache dafür ortet der Psychoanalytiker in der kindlichen Entwicklung. "Wenn ein Kind die Wertschätzung und Zuneigung der Eltern – klassischerweise insbesondere des gegengeschlechtlichen Elternteils - als unzureichend  erlebt, entwickelt es Strategien, um diese fehlende Liebe zu erlangen". Es verhält sich besonders kokett und verführerisch, in der Hoffnung auf diese Weise beim Gegenüber gefallen zu finden.

Die verdrängten frühkindlichen Konflikte, die hinter der "Hysterie" stecken, sind eine Domäne der Psychoanalyse. "Therapeutisches Ziel ist die Bewusstwerdung der Problematik und ein Betrauern dessen, was in der Kindheit nicht gewesen ist", sagt Doering. Die Betroffenen sollen im Rahmen der Psychoanalyse neue Erlebens- und Verhaltensmuster entwickeln und lernen, dass sie nicht nur dann liebenswert sind, wenn sie sich verführerisch geben, sondern um ihrer selbst willen.

Die Anpassung an die gesellschaftliche Norm ist dabei nicht das Ziel. "Die Betroffenen überwinden nur den Teil ihrer Persönlichkeit der pathologisch motiviert ist und zu ihrem Leid geführt hat", sagt Doering. So dürfen Mitmenschen auch weiter die belebende Gegenwart einer histrionischen Persönlichkeit genießen, denn langweilig wird es mit diesen Zeitgenossen praktisch nie. (Regina Walter, derStandard.at, 21.5.2013)