Südtirol als Labor für Politik und angewandte Sprachforschung: Stephanie Risse.

Foto: Georg Hofer
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Bozen/Wien – Die Südtiroler – die deutschsprachigen, wohlgemerkt – sehen sich als Opfer. 1919 durch den Vertrag von Saint-Germain Italien zugesprochen, erlitt Südtirol unter Mussolini Repressionen, sogar die deutsche Sprache wurde im öffentlichen Raum verboten. Erst ab 1946 erhielten die deutschsprachigen Südtiroler nach und nach wieder ihre Rechte.

Obwohl heute niemand mehr ernsthaft an eine "Gefahr aus Rom"  glaubt: Die "Südtiroler"  (also die deutschen) haben den Italo-Faschismus nicht vergessen – und das wirkt bis heute nach, auch in der Alltagssprache, weiß die an der Uni Bozen tätige Linguistik-Professorin Stephanie Risse im Gespräch mit dem Standard zu berichten. In ihrem jüngst erschienenen Buch Sieg und Frieden (Iudicium-Verlag, München) analysiert die gebürtige Münchnerin den Konflikt um das Siegesdenkmal in Bozen. Für die Südtiroler war der selbstherrliche "Faschistentempel"  stets ein Marmor gewordener Dorn im Auge.

Für Risse ist der Konflikt um die 2002 gescheiterte Umbenennung des dort gelegenen Siegesplatzes in Friedensplatz ein Lehrbuchbeispiel für angewandte Linguistik. "Mir ging es darum, kulturelle Bezüge freizulegen" , erläutert die Wissenschafterin und Publizistin. "Die Südtiroler empfinden das Denkmal als Beleidigung. Und damit dreht sich ein Stück weit das Machtverhältnis um: Der Beleidigte bestimmt, wann dieser Konfliktzustand aufgehoben wird."

Sieg statt Frieden

Der damalige Bozner Bürgermeister Giovanni Salghetti Drioli, ein "Italiener" , setzte 2002 eine Geste der Entschuldigung – gegen den mehrheitlichen Widerstand seiner Volksgruppe – und erwirkte eine Namensänderung von Siegesplatz in Friedensplatz. "Damit reichte er den Südtirolern die Hand. Doch diese erwiderten die Geste nicht wie erhofft. Sie wurde bloß zur Kenntnis genommen, nicht aber als Entschuldigung akzeptiert" , erzählt Risse. "Man ließ durch sprachliches, eigentlich nonverbales, Verhalten den Bürgermeister im Regen stehen."  Die Folge war eine neuerliche Umbenennung in Siegesplatz – was die mächtige Südtiroler Volkspartei damit kommentierte, die Italiener seien eben unversöhnlich.

"Die Südtiroler füllen diese Rolle, Beleidigte und Opfer zu sein, seit Jahrzehnten ganz gut aus" , kommentiert die Linguistin, "das ist auch Kalkül, denn so können sie bei Verhandlungen in Rom immer noch etwas rausverhandeln."

Doch so friktionsgeladen wie in der Politik ist das Zusammenleben der drei Südtiroler Sprachgruppen ­– Deutsche, Italiener, Ladiner – im Alltag längst nicht mehr, meint Risse und verweist auf den Trend, Kinder in eine anderssprachige Schule zu schicken. Die Situation sei entspannter als noch vor zehn Jahren.

Doch hier ist die Politik in den Augen der Sprachwissenschafterin mehr Hemmschuh als Gestalterin. "Statt zu reagieren und Pädagogen auszubilden, um richtig mit Gruppen umzugehen, in denen plötzlich 80 Prozent nicht muttersprachlich sind, verweist man auf das per Statut festgeschriebene Schulsystem. Und das sieht eine Trennung nach Sprachgruppen vor. Motivierte Menschen werden wie an einem Gummiband zurückgezogen" , kommentiert Risse.

Dennoch zeigen aktuelle Schulversuche, vor allem in italienischen und ladinischen Einrichtungen, neue Wege einer integrativen Gesellschaft auf. "Die deutschen Schulen waren bisher eher restriktiv, doch auch sie müssen sich anpassen; zumal auch Südtirol mit einem Phänomen konfrontiert ist, das es bisher kaum gab: die Migration."  Und damit wird wohl die Auseinandersetzung mit einer weiteren Ausformung künftiger Südtiroler Identität notwendig. (Gianluca Wallisch, DER STANDARD, 18./19./20.5.2013)