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 Die Brick Lane – eine Straße im East End von London – war im Mittelalter das Zentrum für die Ziegelherstellung ("bricks" ).

Foto: AP/Sang Tan
Grafik: Der Standard

Ecke Fournier Street und Brick Lane im East End von London: Wenn ein Gebäude die Geschichte dieses Viertels verkörpert, dann dieses. "Brick Lane Jamme Masjid", die Große Moschee in der Brick Lane, kümmert sich um das spirituelle Wohl der größten Gemeinde von Bangladeschern in Großbritannien. Rund 3000 Gläubige kommen zum Freitagsgebet. Das Gebäude liegt im Zentrum von Curry-Land.

Gegenüber liegt der Supermarkt Bangla City. Die Straßenschilder sind in Bengali. Jedes zweite Geschäft auf diesem Abschnitt der Brick Lane ist ein Restaurant, und jedes Restaurant bietet die südasiatische Küche von Bangladesch an. London erscheint nirgends exotischer als hier.

Seidenweber angesiedelt

Die "Jamme Masjid"  hieß zuerst "La Neuve Église" . Als die Hugenotten im 17. und 18. Jahrhundert von Frankreich ins liberale Großbritannien flohen, siedelten sich im East End die Seiden­weber an und etablierten 1743 ihre Kirche. Nach den Hugenotten übernahmen missionierende Evangelikale das Gebäude und lobten 50 Pfund für jeden Juden aus, der übertreten wollte.

Man hatte keinen großen Erfolg. Ende des 19. Jahrhunderts wurde aus der Kirche eine "Machzike Hadath", die Große Synagoge der litauischen Aschkenasim. Und als ab 1970 die Einwanderungswelle aus Bangladesch einsetzte, wurde erneut umbenannt, und so nennt sich die ehemalige Synagoge jetzt die Große Moschee – komplett mit Davidsstern über dem Eingang.

Über 300 verschiedene Sprachen

Es ist ein Muster, das nicht nur typisch für das East End ist, sondern für London schlechthin. Gegründet und aufgebaut von den Römern, hat die englische Kapitale eine Einwanderungswelle nach der anderen erlebt. "Wie kann man ein Land regieren" , klagte einmal der französische Staatspräsident Charles de Gaulle, "das 246 Sorten Käse hat?" 

Doch was ist London dagegen, wo über 300 verschiedene Sprachen gesprochen werden! Das moderne Babylon ist der größte Schmelztiegel Europas schon aus Tradition. London hat stets Neuankömmlinge assimiliert: Angeln, Sachsen, Normannen und in späteren Zeiten Hugenotten, Iren und Juden, dann Schwarze aus der Karibik und Immigranten vom indischen Subkontinent. Mit der Zeit werden aus allen Londoner.

Größter Schmelztiegel Europas

Großbritannien versteht sich als Einwanderungsland und als eine Mischlingsnation, und so hatte das Argument von "Rassenreinheit" im Königreich nie Gewicht. Das bedeutet aber nicht, dass in der Brick Lane ein Multikulti-Paradies ausgebrochen wäre. Verteilungskämpfe gab es hier schon immer. Verdrängungen gehören zum Bild. In den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts randalierten hier die Schwarzhemden des Faschisten Sir Oswald Mosley, achtzig Jahre später agitiert in Tower Hamlets die rechtsextreme British National Party.

Hilfe, die Hipster kommen!

Wer wird nach den Bangladeschern kommen? Die Zukunft der Brick Lane ist im nördlichen Abschnitt der Straße zu besichtigen. "Hier ist das Zen­trum der Hipsters", meint Marc Zakian, ein offizieller Fremdenführer und East-End-Experte, "hier ist Londons coolster Stadtteil. Die Gentrifizierung ist voll im Gang." Statt durch ban­gladeschische Re­staurants wird das Straßenbild durch Vin­tage-Mode-Läden geprägt. Und durch Street-Art. Einen Banksy gibt es hier zu finden, ein fünf Stockwerke großes Wandbild von Roa oder einen Ben Eine. Die Großen der Zunft.

Vor 25 Jahren, erinnert sich Zakian, wurde das Straßenbild hier von Secondhandläden und Geschäften für Billigklamotten geprägt. Die Häuser verfielen. Wer hier lebte, wollte wegziehen. Heute strömen Touristen ins Viertel, um die ständig wechselnde Street-Art zu bestaunen und ein wenig Jack-the-Ripper-Atmosphäre zu schnuppern. Die Ziegelbauten wurden aufwändig renoviert. 

Der Charme des ehemaligen Elendsviertels

Die Banker aus der City, die einen halben Kilometer westlich liegt, entdeckten den Charme des ehemaligen Elendsviertels und zogen ein. Heute können es sich nur noch die ganz Reichen oder diejenigen mit Anspruch auf Sozialwohnungen leisten, in der Brick Lane zu wohnen. Besser lässt sich London kaum auf den Punkt bringen. (Jochen Wittmann aus London, DER STANDARD, 18./19.20.5.2013)