Ende April war es wieder soweit. Blut floss in der chinesischen Unruhe-Region Xinjiang, Blut von Uiguren und Han-Chinesen gleichermaßen. Eine Seltenheit ist das nicht mehr, genausowenig wie die darauffolgenden gegenseitigen Schuldvorwürfe. Separatisten verübten einen Terroranschlag, verlauteten die chinesischen Behörden. Eine Provokation der Sicherheitskräfte sei dem vorausgegangen, argumentierte hingegen der im Exil agierende Uiguren-Weltkongress. Der Zwischenfall mit 21 Todesopfern ist das jüngste Kapitel eines Konflikts, der vor Jahrhunderten seinen Anfang nahm und sich vor 64 Jahren zuspitzte. Als das neo-kommunistische China in die Region Xinjiang einmarschierte.

"China ist eine vereinte Nation mit 56 ethnischen Gruppierungen", heißt es laut Eigendefinition aus Peking. 2004 proklamierte der damalige Präsident Hu Jintao zudem eine "Hexie Shehui", eine harmonische Gesellschaft. Davon ist vor allem in Xinjiang wenig zu spüren. In der 1,65 Millionen Quadratkilometer großen Region im Nordwesten Chinas bestimmt Armut das Leben der mehr als 21 Millionen Einwohner. Und vor allem Gewalt. Dabei spielen Kasachen, Mongolen, Tadschiken oder Kirgisen nur einen vernachlässigbaren Part. Die Hauptrollen haben Uiguren und Han-Chinesen inne, die rund 45 beziehungsweise 40 Prozent der Bevölkerung in diesem ethnischen Schmelztiegel ausmachen.

Im Jahr 1949, da war noch einiges anders in Xinjiang. Han-Chinesen stellten gerade einmal fünf Prozent der Bevölkerung, Uiguren dafür 75 Prozent. In China tobte der Bürgerkrieg zwischen Tschiang Kai-scheks Nationalisten und Mao Tse-tungs Kommunisten, und die Uiguren hatten gerade einen erfolglosen Versuch der Staatenbildung zu verdauen. "Republik Ost-Turkestan" hieß das fragile Gebilde, das 1944 mit sowjetischer Unterstützung ausgerufen wurde und nur zwei Jahre später wieder das Zeitliche segnete. Es war der vorerst letzte große Anlauf der Uiguren zur Erreichung der Selbstständigkeit.

Davor und danach standen die Uiguren unter Fremdherrschaft. Ihr eigenes Großreich zerbrach Mitte des neunten Jahrhunderts, daraufhin hatten abwechselnd Mongolen, Chinesen und Russen das Sagen über das vorwiegend muslimische Turkvolk, das kulturell und sprachlich in enger Verwandtschaft mit den Türken steht. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das uigurische Siedlungsgebiet von der damals in China herrschenden Mandschu-Dynastie erobert. Bis Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu zahlreichen muslimischen Aufständen, bei denen Millionen Uiguren und Chinesen ums Leben kamen. 1884 wurde das Gebiet offiziell unter dem Namen Xinjiang (Neues Gebiet) in das Chinesische Kaiserreich integriert. Uiguren und andere Turkvölker bevorzugten hingegen die Bezeichnungen "Uigiristan" oder "Ost-Turkestan".

Nach dem Untergang des Chinesischen Kaiserreichs 1911/1912 blieb Xinjiang im Gegensatz zu Tibet oder der Mongolei Teil der neu gegründeten Republik China, allerdings entglitt die Region vollkommen der Kontrolle der Zentralregierung. Dafür kämpften regionale Warlords um die Macht. Im Laufe der Zeit versuchten auch Japan und vor allem die Sowjetunion Einfluss zu nehmen. Immer wieder kam es zu Versuchen, in Teilen von Xinjiang eine "Republik Uigiristan" auszurufen. Doch diese scheiterten ebenso wie der bereits genannte Anlauf mit der "Republik Ost-Turkestan", die von keinem Land anerkannt wurde.

In dieser prekären Situation marschierten 1949 die in China siegreichen Kommunisten in Xinjiang ein. Die Sowjets billigten diesen Schritt, schließlich handelte es sich bei den Chinesen nun um Brüder im Geiste. Sechs Jahre später wurde in der neuen kommunistischen Volksrepublik China die "Autonome Region Xinjiang" errichtet. Offiziell wurde den Uiguren politische, kulturelle und wirtschaftliche Unabhängigkeit garantiert. Doch das sollte sich bald als falsches Versprechen erweisen.

Im Rahmen einer großangelegten Sinisierung – der Realisierung einer hauptsächlich chinesisch geprägten Gesellschaft – wurden die Uiguren ebenso wie andere in China lebende Minderheiten unterdrückt. Demokratische als auch religiöse Gegenbewegungen wurden im Keim erstickt, die daraus resultierenden Aufstände brutal niedergeschlagen. Allein in Xinjiang kamen bei rund 60 Aufständen zwischen 1950 und 1968 mindestens 360.000 Menschen ums Leben. Gleichzeitig wurde Muslimen in China der Gebrauch der arabischen Schrift verboten und die Ansiedlung von Han-Chinesen in Xinjiang in großem Maß vorangetrieben. Abgesehen davon entstand in Lop Nor in Xinjiang das chinesische Atomtestgelände. 1967 wurde dort die erste Wasserstoffbombe gezündet.

Der Bruch zwischen Moskau und Peking

Anfang der 1960er verschärfte sich die Lage in Xinjiang ein weiteres Mal. Zwischen China und der Sowjetunion kam es zum offenen Bruch, danach unterstützte Moskau oppositionelle Gruppierungen in der Region. Die Konsequenz: Peking erhöhte die militärische Präsenz in Xinjiang. Marschierten 1949 100.000 Soldaten dort ein, befanden sich 1970 mehr als 250.000 Soldaten in der Region.

Auch das weitere Schicksal der Uiguren ist eng mit dem der Sowjetunion verbunden. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 wurden nahe Xinjiang die Staaten Usbekistan, Tadschikistan, Kasachstan, Kirgisistan und Turkmenistan ausgerufen. Dadurch angespornt erhoben sich auch die Uiguren wieder und forderten die Errichtung eines eigenständigen Staates. Im Zuge dessen entstanden zahlreiche teilweise radikale Gruppierungen, die ein vereinigtes Turkestan forderten und dabei auch Gewalt anwendeten.

Hunderte Anschläge sollen seit den 1990er Jahren auf das Konto von uigurischen Separatisten gehen. Außerdem wurden Attentate auf pro-chinesische uigurische Funktionäre verübt. So fiel zum Beispiel der regimegenehme Imam der Großen Moschee von Kashgar einem Mordanschlag zum Opfer. Im Gegenzug wurden tausende Uiguren verhaftet und laut Menschenrechtsorganisationen auch gefoltert. Hunderte sollen hingerichtet worden sein. Peking behauptet, dass es Verbindungen zwischen uigurischen Separatisten und der Terrororganisation Al-Kaida gibt und begründet sein Vorgehen in Xinjiang mit dem Kampf gegen den Terror. Demnach sollen zwischen 1997 und 2001 rund 1.000 Uiguren eine militärische Ausbildung von Al-Kaida in Afghanistan erhalten haben.

Der letzte Gewaltausbruch größeren Ausmaßes in Xinjiang fand im Juli 2009 statt. Zwei Uiguren sollen in der Hauptstadt Xinjiangs, Ürümqi, zwei Han-Chinesinnen vergewaltigt haben, die beiden Uiguren wurden daraufhin von Han-Chinesen erschlagen. Uiguren forderten in friedlichen Demonstrationen eine Untersuchung der Vorfälle, vor allem wollten sie dem Vergewaltigungsvorwurf nachgehen, der sich wenig später tatsächlich als falsch erwies. Stattdessen aber versuchte die Polizei die Proteste aufzulösen. Es kam zur Eskalation, Uiguren machten Jagd auf Han-Chinesen und umgekehrt, Geschäfte und Autos wurden angezündet, und Polizisten machten von ihren Schusswaffen Gebrauch. Tage später gab die Provinzregierung zu, dass Sicherheitskräfte zwölf Demonstranten erschossen hatten.

Die Bilanz der Zwischenfälle: hunderte Tote, mehr als tausend Verletzte und Todesurteile für beteiligte Uiguren, aber auch Han-Chinesen. Und natürlich eine Verschärfung der repressiven Maßnahmen Pekings in Xinjiang. So wurden im Jahr 2010 fast 17.000 zusätzliche Überwachungskameras allein in Ürümqi installiert.

Trotz oder wegen dieser Maßnahmen kam es seitdem zu weiteren Gewaltausbrüchen in Xinjiang. So wie Ende April. Die proklamierte "Hexie Shehui" bleibt eine Illusion. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 27.5.2013)