Foto: Nikolai Marinow

Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen in Bulgarien steht am Sonntag die Hafenstadt Varna im Mittelpunkt. In der zweitgrößten Stadt des Landes (ex equo mit Plovdiv – rund 330.000 Einwohner) war die Protestbewegung im vergangenen Winter besonders groß. Die Wut der Bevölkerung richtete sich nicht nur allein gegen die Strompreise und die soziale Misere, sondern auch gegen den Stadtrat mit seinem langjährigen Bürgermeister Kiril Jordanow und gegen den Einfluss der Unternehmergruppe TIM in Varna, so benannt nach den Brüdern Tihomir und Marin Mitew sowie deren Geschäftsparter Ivo Georgiew.

Am 22. Februar verbrannte sich der 36-jährige Plamen Goranow als Zeichen des Protests gegen Bürgermeister Jordanow und dessen Machtsystem vor dem Rathaus. Regierungschef Borissow trat wenige Stunden später zurück, Jordanow am 6. März (nach fast 14 Jahren im Amt); Goranow starb am 3. März an seinen Verletzungen. Neue Bürgermeister- und Stadtratswahlen sind am 30. Juni. Bei den Parlamentswahlen am Sonntag schickte die frühere Regierungspartei Gerb (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens) ihre wichtigste Politikerin (neben dem nunmehr angeschlagenen Ex-Innenminister Tswetanow), die frühere Infrastrukturministerin Liljana Pawlowa, ins Rennen und die Sozialisten ihren Kandidaten für das Amt des Premierministers, Plamen Orescharski. Der Chef der rechtsextremen Ataka, Wolen Siderow, trat ebenfalls in Varna an.

Vor acht Jahren hatte der damalige US-Botschafter in Bulgarien, James Pardew, die TIM-Gruppe als den „neuen Führer des organisierten Verbrechens“ in Bulgarien beschrieben. Die Depesche für das State Department in Washington, bekannt gemacht durch Wikileaks, war im Frühjahr 2011 dann in den bulgarischen Medien, die nur mit großer Vorsicht über die Unternehmergruppe berichten, breit dargestellt worden. Ein Journalist der Wochenzeitung Kapital in Sofia ist gleichwohl bereits bedroht worden, auch der Organisator der Öko-Proteste in Varna im vergangenen Jahr, der in Yale in den USA lehrende Politikwissenschaftler Nikolai Marinow, dürfte mit der Gruppe und den Kreisen um Jordanow Bekanntschaft gemacht haben. Vor dem Haus seiner Eltern in Varna wurde ein Haufen verfaulter Tomaten gekippt. „Amerikanische Tomate“ sprühten die Lieferanten zur Erklärung an die Gartenmauer. Die Nachbarn waren völlig überrascht, weil sie doch gar nichts davon mitbekommen haben wollen. Im Interview zeichnet Marinow ein düsteres Bild von der Stadt:

Was läuft falsch in Varna?

„Die staatlichen Institutionen in Bulgarien sind schwach. Korrupte Politiker erlauben Leuten, sich lukratives Land zu greifen, eine Baugenehmigung zu bekommen und dann damit Geld zu machen. Weil die Gerichte äußerst langsam arbeiten, haben diese Leute in der Regel Erfolg. Varna ist ein sehr attraktiver Ort für diese Aktivitäten.

Der Seepark in Varna ist dafür ein Beispiel. Laut Gesetz sind Grünflächen von der Stadt als verbotene Baufläche zu registrieren. Die Jordanow-Verwaltung hat das verlangsamt, und bis man einmal einen Gerichtsentscheid gegen eine Bebauung erstritten hat, ist es in der Regel zu spät.

TIMs Aktivitäten machen fünf Prozent des BIP in Bulgarien aus. Sie haben unter anderem die Flughäfen in Varna und Burgas, den Weizenanbau – im Grund passiert alles, was in Varna geschieht, mit ihrer Zustimmung. Sie unterhalten einflussreiche Beziehungen zur Zentralregierung in Sofia. Sie bestreiten das natürlich und sagen, sie seien normale Geschäftsleute.

Verglichen mit seinen Konkurrenten Burgas und Plowdiw wirkt Varna mittlerweile rückständig und depressiv.

Das ist richtig. In der Stadt wird nichts ordentlich gemacht. Jedes Mal wenn es ein größeres öffentliches Vorhaben gibt, werden anstelle einer sauberen Ausschreibung, die auch Investoren aus dem Westen Chancen gäbe, die Regeln herumgebogen, so dass der Gewinner bereits im Vorhinein feststeht. Diese Leute sind natürlich nicht daran interessiert, Geld auf ordentliche Weise zu verdienen, sie wollen nur die öffentlichen Ressourcen nutzen und anzapfen, aber nicht gut entwickeln. Deshalb ist Varna nun ohne Plan zugebaut. Das alles treibt die Leute auch aus der Stadt weg.

Warum kam es dann zu den großen Protesten in Varna?

Ich vergleiche es mit einem Druckkessel. Stadtverwaltung und die Unternehmergruppe haben eine eigene Marke für die Politik und Wirtschaft in Varna geschaffen. Jeder höher qualifizierte Kandidat für politische Ämter wird von den Medien abgeschossen, die fast ausnahmslos diesen dubiosen Organisationen und Kartellen gehören. Es gibt auf diese Weise keine wirkliche Vertretung der Interessen der Bewohner. Umgekehrt ist jeder, der als Kandidat vorgeschlagen wird, mit diesen Leuten in Verbindung. Auf längere Sicht zehrt das an der wirtschaftlichen Stärke einer Stadt. Die Bewohner haben keine Jobs oder verdienen nicht genug Geld zum Leben. Vor zehn oder 15 Jahren lag Varna wegen seiner besseren Ressourcen klar vor Burgas. Doch das Bild hat sich völlig verändert, weil wir diese parasitäre Struktur in der Stadt haben. Als dann die Proteste begannen...Proteste sind natürlich chaotisch, es ist keine klare Artikulierung dessen, was die Menschen wollen. Aber jeder hat begriffen: wir sind arm, diese Stadt steuert ins Nichts und wir reagieren nun darauf.

Jordanow hat mittlerweile sein Amt als Bürgermeister niedergelegt.

Jordanow ist weg, aber ich glaube nicht, dass sich die Art, wie die Stadt regiert wird, wirklich geändert hat. Die Lokalwahlen am 30. Juni sind der wirkliche Test. Es ist sehr zu bezweifeln, dass die schlaueren Leute das System aus der Hand geben und einen wirklichen politischen Wettkampf zulassen. Einige Dinge sind besser geworden – es gibt mehr öffentliche Debatte, mehr Offenheit im Allgemeinen. In der Vergangenheit war es zum Beispiel unmöglich zu sagen, dass TIM Interessen in dieser oder jener Angelegenheit hat. Die Medien würden das nicht drucken. Jetzt sind die Menschen ein bisschen mutiger. Doch was die Stadt selbst angeht, wie sie regiert wird und wer sie beherrscht – hier steht der Wandel noch aus. Gruppen wie TIM kontrollieren so viele Institutionen im Staat – Gerichte, Parlamentsabgeordnete – dass es äußerst schwer ist, einen wirkungsvollen Wahlkampf zu organisieren, der am Ende gegen ihre Interessen ginge. Wir haben dem Namen nach eine Demokratie, aber das System ist so verrottet und beherrscht von Geschäftsleuten, dass die Menschen den Glauben verloren haben. (Markus Bernath, derStandard.at, 12.5.2013)