Das sichtbarste Symptom der anhaltenden Krise in der Eurozone sind die hohen und unterschiedlichen Risikoaufschläge, die die Länder der Peripherie für ihre Staatschulden zahlen müssen. Überdies legen die Ergebnisse einer maßgeblichen, wenn auch zuletzt sehr umstrittenen wissenschaftlichen Arbeit der amerikanischen Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff nahe, dass das Wirtschaftswachstum drastisch sinkt, wenn die Staatsschulden eines Landes über 90 Prozent des BIPs steigen. Der politische Ansatz zur Lösung der Krise lautet daher simpel: sparen. Um das Schuldenniveau zu senken, müssen Haushaltsdefizite abgebaut werden.

In der Debatte um Sparmaßnahmen und Kosten der Staatsschulden geht ein entscheidendes Argument jedoch unter: Staatsschulden gegenüber ausländischen Gläubigern unterscheiden sich von Schulden bei einheimischen Gläubigern. Ausländer können nicht für höhere Steuern oder niedrigere Ausgaben stimmen, die notwendig sind, um die Schulden zu bedienen. Im Falle von Inlandsschulden führen höhere Zinssätze oder Risikoprämien überdies zu einer stärkeren Umverteilung innerhalb des betreffenden Landes (nämlich von Steuerzahlern zu Anleiheinhabern). Im Gegensatz dazu haben Schulden gegenüber ausländischen Gläubigern einen Wohlstandsverlust des ganzen Landes zur Folge, weil die Regierung Ressourcen in das Ausland transferieren muss, was in der Regel eine Kombination aus Währungsabwertung und Kürzung der nationalen Ausgaben erfordert.

Gegenbeispiele Belgien, Japan

Die Unterscheidung zwischen Auslands- und Inlandsverschuldung ist vor allem im Kontext der Eurokrise von besonderer Bedeutung, weil die Länder der Eurozone nicht abwerten können, um ihre Exporte anzukurbeln, wenn dies der Schuldendienst erfordert. Und die Sachlage beweist, dass es in der Eurokrise eigentlich nicht um Staatsschulden, sondern um Auslandsschulden geht.

Tatsächlich waren nur diejenigen Länder von der Krise betroffen, die vorher hohe Leistungsbilanzdefizite aufwiesen. Der Fall Belgiens ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich, weil die Risikoaufschläge für belgische Staatsschulden über die längste Zeit der Eurokrise auf moderatem Niveau blieben, obwohl die Schuldenquote von etwa 100 Prozent über dem Durchschnittswert in der Eurozone liegt und das Land über ein Jahr ohne Regierung dastand.

Ein noch deutlicheres Beispiel für den entscheidenden Unterschied zwischen Auslands- und Inlandsverschuldung ist Japan, das die mit Abstand höchste Schuldenquote unter den OECD-Ländern aufweist. Bislang hat das Land keine Schuldenkrise erlebt und die Zinssätze sind mit rund 1 Prozent außergewöhnlich niedrig.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Japan erzielt seit Jahrzehnten beträchtliche Leistungsbilanzüberschüsse, wodurch mehr als ausreichend nationale Ersparnisse zur Verfügung stehen, um die gesamten Staatsschulden im Inland zu absorbieren.

Was bedeutet das nun für die europäische Austeritätsdebatte? Wenn es mehr auf die Auslands- als auf die Inlandsverschuldung ankommt, ist die zentrale anzupassende Variable nicht das Haushaltsdefizit, sondern das Außenhandelsdefizit.

Ein Land mit ausgeglichener Leistungsbilanz braucht kein zusätzliches Kapital aus dem Ausland. Aus diesem Grund sinken die Risikoaufschläge in der Eurozone weiter, trotz der hohen politischen Unsicherheit in Italien und der anhaltend hohen Haushaltsdefizite in anderen Ländern. Die Außenhandelsdefizite in den Ländern der Peripherie verringern sich rapide und damit reduziert sich auch der Bedarf an ausländischer Finanzierung.

Die Debatte um Sparmaßnahmen und die hohen Kosten der Staatsschulden ist daher in zweierlei Hinsicht irreführend. Erstens ist oftmals darauf hingewiesen worden, dass Sparprogramme kontraproduktiv sein können, weil eine Senkung des Haushaltsdefizits kurzfristig zu einem Anstieg der Schuldenquote führen kann, wenn sowohl der Schuldenstand als auch der Multiplikator hoch sind. Doch hinsichtlich der Anpassungen im Außenhandelsbereich können Sparmaßnahmen niemals kontraproduktiv sein.

Im Gegenteil: je größer der Rückgang der Binnennachfrage als Reaktion auf öffentliche Ausgabenkürzungen, desto stärker sinken die Importe und desto deutlicher verbessert sich die Leistungsbilanz – und letztlich auch das Niveau der Risikoaufschläge.

Die Erfahrungen Italiens sind diesbezüglich aufschlussreich: Die unter der Technokratenregierung des früheren Ministerpräsidenten Mario Monti im Jahr 2012 eingeführten drastischen Steuererhöhungen zeigten stärkere Auswirkungen auf die Nachfrage als erwartet. Die Wirtschaft schrumpft in einem Ausmaß, dass die Schuldenquote steigt und das tatsächliche Defizit nur unwesentlich kleiner wird, weil die staatlichen Einnahmen mit sinkendem BIP fallen. Doch eine Begleiterscheinung dieses sinkenden BIPs ist der Rückgang der Importe – und daher eine deutliche Verbesserung der Leistungsbilanz, wodurch die Risikoprämien trotz der politischen Turbulenzen infolge des nicht eindeutigen Ergebnisses der jüngsten Wahlen weiter fallen.

Peripherieländer ohne Wahl

Zweitens: Wenn die Auslandsverschuldung das wahre Problem darstellt, ist die eskalierende Debatte rund um die Studienergebnisse von Reinhart und Rogoff für die Eurokrise irrelevant. Länder, die über ihre eigene Währung verfügen, wie Großbritannien – und vor allem die Vereinigten Staaten, die im Ausland Dollarkredite aufnehmen können – stehen vor keiner direkten Finanzierungsbeschränkung.

Bei diesen Ländern kommt es sehr wohl darauf an, ob es einen geschichtlichen Anhaltspunkt für einen starken Schwelleneffekt gibt, sobald die Staatsschulden 90 Prozent des BIP erreichen. Doch die Länder der Eurozonenperipherie hatten einfach keine Wahl: sie mussten ihre Defizite verringern, weil das ausländische Kapital, auf das ihre Ökonomien derart angewiesen waren, nicht mehr verfügbar war.

Umgekehrt gilt allerdings auch: Sobald die Leistungsbilanz einen Überschuss aufweist, lässt der Druck der Finanzmärkte nach. Das wird wahrscheinlich bald passieren. Zu diesem Zeitpunkt werden die Länder der Peripherie ihre haushaltspolitische Souveränität wieder erlangen – und in der Lage sein, die Warnungen von Reinhart und Rogoff auf eigene Gefahr zu ignorieren. (DER STANDARD, 11.5.2013)