Gummi Neger, ein alteingesessener Fachhandel für Gummistiefel, Gartenschläuche und mehr aus Kunststoff, ist eines der wenigen alten Geschäfte, die auf der Annenstraße überlebten. Nebenan leuchtet ein frisch renoviertes Haus.

Foto: Elmar Gubisch

Pflegen Kunst des Urbanen mitten im Viertel: Makovec (li.) und Lederer.

Foto: Elmar Gubisch

Graz - Jeder kennt das Annenviertel in Graz. Doch seinen Namen hat der Stadtteil links und rechts der Annenstraße, die einen Kilometer lang ist und sich vom Hauptbahnhof direkt ins Herz der Stadt bohrt, erst seit vier Jahren. Seither hat sich einiges im Viertel getan, dessen Grenzen nicht genau definiert sind und das sich über die Bezirke Lend und Gries - einst traditionelle Arbeiterbezirke - erstreckt. Die Grenze zwischen Lend und Gries ist die Annenstraße. Am Samstag wird sie sich zum dritten Mal in einen langgezogenen bunten Flohmarkt verwandeln. Auch einen Annen-Stammtisch, der auf den Auslagen des Stadtteilbüros beworben wird, gibt es nun regelmäßig.

Tote Hose

"Maria hat sich küssen lassen, mitten auf der Annenstraßen, Mutter hat's gesehen, und du musst gehen." Grazer Kinder kennen diesen Auszählreim seit Generationen. Spätestens in den 1980er-Jahren wunderte man sich aber, warum man sich ausgerechnet auf der Annenstraße küssen lassen sollte. Außer einem Kino war hier tote Hose. Die Straße - in den 1960ern eine Flaniermeile - stirbt seit Jahrzehnten. Ohne Shops von Migranten, wie kurdische, indische oder russische Lebensmittelläden, hätten Leerstände überhandgenommen.

Projekt "Annenviertel" 2009 ausgerufen

Doch 2009 rief das Zentrum für zeitgenössische Kunst Rotor mit der Stadtforscherin Elke Krasny das Projekt "Annenviertel" aus. Untertitel: "Die Kunst des urbanen Handelns". Soziologen und Künstler entwickelten mit Bewohnern Zukunftsvisionen, Anliegen wurden formuliert und viele gut besuchte Veranstaltungen organisiert. Damals entstand auch eine Viertel-Zeitung.

Heute wird die Annenpost von Thomas Wolkinger vom Studiengang für Journalismus und PR der FH Joanneum und seinen Studierenden gemacht. Das letzte Baby der Annenpostler: ein handgezeichneter, praktischer Plan des Viertels mit kulturellen und sozialen Hotspots.

Selbstermächtigung der Bewohner

"Wir haben versucht, die Stimmen aus dem Viertel hörbar und sichtbar zu machen", erzählt Anton Lederer, der mit Margarethe Makovec den Rotor leitet, beim Spaziergang durch den Metahofpark.

Auf einer Parkmauer findet man seit 2011 eine Arbeit der Künstlerin Isa Rosenberger: Sätze von Migrantinnen, die nun weithin sichtbar rot leuchten. "Leben ohne Angst" ist einer der verewigten Wünsche. Der Metahofpark steht auch für die Selbstermächtigung der Bewohner. Er ist neben dem Volksgarten eine der letzten Grünflächen mit Spielplatz im Viertel, für die gekämpft werden musste. Denn in den 1970er-Jahren sollte der Park verbaut werden. Der Protest der Anrainer verhinderte das.

"Wunderbarer Urwald"

"In meiner Kindheit war das ein unglaublicher, wunderbarer Urwald", erzählt Wolkinger, der im Viertel aufwuchs. In der Nähe des Parks endet die Annenstraße vor dem Bahnhof. Hier war die ehemals schwarz-grüne Stadtregierung nicht untätig. Neben einer gigantischen Baustelle gibt es schon neue Radwege, breitere Gehsteige und ein kleines Stück "U-Bahn". Denn seit kurzem tauchen die Straßenbahnen hier stadtauswärts ab.

Das Viertel lebt jedenfalls. Als die Künstlerin Kristina Leko am 1. Mai acht "Denkmale zur Geschichte von Arbeit und Einwanderung" präsentierte, gingen 200 Menschen mit. Die schwarz-roten Tafeln, die Orte dauerhaft markieren werden, erzählen von Institutionen, wie der Bibliothek der Arbeiterkammer, und auch Menschen, wie der Schneiderin Mercy aus Ghana, die mit ihren beiden Söhnen im Viertel lebt.

Das Viertel hat auch eine anarchistische Geschichte: In jenem Haus, in dem sich heute das Kurdistan-Informationszentrum befindet, traf sich in den 1920er-Jahren der "Bund herrschaftsloser Sozialisten".

Befürchtungen vor zu schickem Viertel

Heute bewerben Immobilienentwickler das "Wohnen im Annenviertel", und schicke Cafés locken zum "Frühstück im Annenviertel". Die Stadtbaudirektion fragte bei Rotor an, ob sie den Namen "Annenviertel" verwenden dürfe. "Ich fand das schön", sagt Lederer, "jetzt ist etwas positiv konnotiert, das vor vier Jahren belastet war."

Doch Lederer und Wolkinger fürchten auch, dass das Viertel zu schick werden könnte. "Die migrantischen Kleinunternehmer, die viel Eigeninitiative gezeigt haben, dürfen nicht abgedrängt werden", wünscht sich Wolkinger. "Man muss das Viertel als Gesamtheit verstehen", stimmt Lederer zu. Und die beiden Männer schwärmen vom besten Laden für Comics und Modellautos, den sie nicht mehr missen möchten, und vom Essen beim Thailänder ums Eck. (Colette M. Schmidt, DER STANDARD, 4./5.5.2013)