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Leere Esstische in Guantánamo - über zwei Drittel der Häftlinge sind in den vergangenen Wochen in Hungerstreik getreten.

Foto: REUTERS/Bob Strong

Ein Mann wiege nur noch 35 Kilo, ein anderer 44, "und beim letzten Mal, als ich auf der Waage stand, waren es 60, aber das war vor einem Monat". Samir Naji al-Hassan Moqbel ist im Hungerstreik. Jüngst hat er sich aus Guantánamo zu Wort gemeldet, in einem von seinem Anwalt lancierten Brief. "Niemand glaubt im Ernst, dass ich gefährlich bin. Aber ich bin immer noch hier."

Seit elf Jahren und vier Monaten sitzt der Jemenit in dem Gefangenenlager auf Kuba. Dabei beteuert Moqbel seine Unschuld: "Wegen einer Straftat wurde ich nie angeklagt. Ein Verfahren habe ich nie bekommen", notiert er verbittert. Festgehalten werde er nur, weil US-Präsident Barack Obama es ablehne, Häftlinge zurück in den Jemen zu schicken. "Das macht keinen Sinn. Ich bin ein menschliches Wesen, keine Passnummer, und ich verdiene es, wie eines behandelt zu werden." Er sei jetzt 35, er wolle endlich nach Hause, eine Familie gründen.

Zwangsernährt

Die verzweifelt klingenden Zeilen helfen, die Gründe eines Hungerstreiks zu verstehen, dessen Dimensionen alles übertreffen, was das Camp bisher erlebte. Fast zwei Drittel der verbliebenen Insassen, nach amtlichen Zahlen 105 von 166, verweigern die Nahrungsaufnahme. Am Wochenende beorderte das Pentagon 40 Ärzte und Krankenpfleger als Verstärkung auf den karibischen Flottenstützpunkt, zusätzlich zu den etwa 100 medizinischen Kräften, die bereits dort stationiert sind.

21 Gefangene werden zwangsernährt. Das bedeutet, dass ihnen ein Schlauch durch die Nase in den Magen geführt wird, während sie, die Körper mit Riemen festgezurrt, auf einer Pritsche liegen. "Als der Schlauch hineingestoßen wurde, fühlte ich mich, als müsste ich erbrechen, aber ich konnte es nicht. In der Brust, in der Kehle, im Bauch, überall litt ich furchtbare Schmerzen," sagt Moqbel. Auch der Bund amerikanischer Mediziner hat Widerspruch angemeldet. Die Zwangsernährung verletze ärztliche Grundwerte. Jeder Patient, der bei Sinnen sei, habe das Recht, medizinische Eingriffe abzulehnen, "auch Eingriffe, die ihn am Leben erhalten".

Frustpotenzial

Die Geschehnisse lassen auch die Debatte um die Zukunft des Lagers in neuer Schärfe aufflammen. Am Dienstag betonte Obama, er werde sich weiterhin für die Schließung einsetzen.

Ins Rollen gekommen war die Protestwelle vor knapp drei Monaten. Damals durchsuchten laut Anwälten Aufpasser die Zellen viel gründlicher als sonst nach geschmuggelten Gegenständen. Ungewöhnlich aggressiv sollen sie Koran-Exemplare durchgeblättert haben. Laut Militär handelte es sich um Routine-Checks.

Unbestritten ist das Frustpotenzial, das sich da bereits angestaut hatte. Wegen Obama, der in der Euphorie seiner ersten Amtstage versprochen hatte, Guantánamo binnen zwölf Monaten aufzulösen. Als er seine zweite Amtszeit antrat, schloss er das Büro Daniel Frieds, des Sonderbeauftragten, der die Überstellung von Häftlingen organisieren sollte.

Zahl der Hungerstreikenden verdoppelt

Dabei waren 86 von ihnen längst als unbedenklich eingestuft worden. 56 davon stammen aus dem Jemen. Sie könnten heimkehren, hätte Obama nicht sämtliche Häftlingstransfers dorthin gestoppt, seit der Nigerianer Umar Faruk Abdulmutallab zu Weihnachten 2009 versuchte, an Bord einer Transatlantikmaschine einen Sprengsatz zu zünden. Der sogenannte Unterhosenbomber war bei einem Ableger Al-Kaidas im Jemen ausgebildet worden. Dann folgte am 13. April 2013 die nächste Eskalationsstufe. Im Camp VI, wo Rückkehrkandidaten den Tag in Gemeinschaftsräumen verbringen durften und die Türen ihrer Einzelzellen offen standen, wurden im Zuge einer Razzia die Regeln verschärft. Nunmehr dürfen die Insassen ihre Zellen nur noch in Ausnahmefällen verlassen. Die Zahl der Hungerstreikenden hat sich seitdem verdoppelt. (Frank Herrmann, DER STANDARD, 3.5.2013)