Langer Marsch durch ein verwunschenes Land: Lore (Saskia Rosendahl), die Titelheldin aus Cate Shortlands Filmdrama.

Foto: Polyfilm

Wien - Die Internationalität von Lore ist beachtlich. Der zweite Spielfilm der australischen Regisseurin Cate Shortland (nach ihrem vielbeachteten Debüt Somersault, 2004) basiert auf einem Buch der Britin Rachel Seiffert (Die dunkle Kammer) und spielt in Deutschland kurz nach der Kapitulation des Nazi-Regimes. Bei kollektiven Anstrengungen dieser Art befürchtet man gleich einen verwaschenen, ungenauen Film, zumal wenn es um einen heiklen historischen Stoff geht; doch dies ist hier nicht der Fall - Lore zeichnet ein ungewöhnlicher persönlicher Blick auf eine historische Realität aus, der eng mit der subjektiven Wahrnehmung der Titelheldin verbunden bleibt.

Kinder ohne Eltern

Die jugendliche Lore (Saskia Rosendahl) und ihre vier Geschwister (das jüngste davon ist noch ein Baby) entstammen der Familie eines hohen SS-Angehörigen. Das Kriegsende bringt für sie den Verlust aller Sicherheiten. Der Vater verbrennt geheime Unterlagen, erschießt den Hund und flieht; die Mutter folgt ihm kurz danach. Mit den Eltern tritt auch die Geschichte ein Stück weit aus dem Film, obgleich sich gerade Lore mit ihren Aussagen als stramme Nationalsozialistin erweist - sie glaubt immer noch an den "Endsieg".

Um Überzeugungen geht es später allerdings nur dann, wenn die Kinder, die sich nunmehr allein durchschlagen müssen, in Bedrängnis geraten. Auf einmal sind sie selbst die Ausgestoßenen in einem Land, das Kameramann Adam Arkapaw in düster-romantischen Bildern filmt. Natur stellt sich in Lore als eine teilnahmslose Wildnis dar, welche die Überreste des Kriegs gleichsam überwächst, zu sich zurückholt - einmal sieht man beispielsweise eine Frauenleiche, die bereits von Ameisen überrannt wird.

Shortland ist eine Regisseurin, die sich besonders auf ein sensualistisches Kino versteht, in dem Bildoberflächen eine körperliche Sinnlichkeit bekommen. Vor plumpen Psychologisierungen ist der Film schon deshalb weitgehend gefeit. Die Perspektive ist dezidiert antirealistisch, Shortland scheint mehr an der Märchenwelt der Gebrüder Grimm Maß genommen zu haben.

Die Reise der Kinder quer durch Deutschland führt so auch eher durch verwunschenes als durch versehrtes Land. Soldaten sind kaum zu sehen, dafür hinterlistige Landsleute, Zeichen von Verfall und Verrohung. Durch einen Burschen (Kai Malina), der einen Judenstern am Arm trägt, wird Lore aus der Reserve gelockt.

Über die Begegnung mit einem davor unbekannten Außen erstellt der Film eine Allegorie des Übertritts. Lore wird nicht nur mit ihrer Sexualität, sondern auch den Auswirkungen der Ideologie der Eltern konfrontiert. Es sind leider gerade solche Verdeutlichungen, die Shortland am wenigsten gelingen - sie geraten konstruiert, symbolschwer.   (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 3.5.2013)