Crossing Europe gibt es seit 2004, schon dreißig Jahre früher begann Helena Trestikovas Langzeitbeobachtung "Private Universe". 

Foto: Crossing Europe

Zur Jubiläumsedition wird auf der Leinwand auch über das Älterwerden nachgedacht.


Im Jahr 2004 wagte man in Linz die Gründung eines neuen Filmfestivals. Eines, das junges europäisches Kino abseits des Konventionellen, Gefälligen und der landläufigen Erwartungen ins Zentrum rücken wollte und die Notwendigkeit dieser Maßnahme gleich eindrücklich belegte: Im Wettbewerb lief zum Beispiel Des épaules solides, das Debüt der jungen Schweizerin Ursula Meier, das eine eigenwillige Mädchengeschichte von einer entschlossenen Nachwuchssportlerin erzählte.

In der Sektion Panorama unterzog sich der Dokumentarfilmer Peter Liechti einem ebenso erheiternden wie erhellenden Selbstversuch (Hans im Glück - Von einem, der auszog, das Rauchen loszuwerden). Sein Kollege Vlado Skafar porträtierte den auf längere Sicht glücklosen slowenischen Skispringer Primo Peterka. Und eines der Festivaltributes war einem viel versprechenden italienischen Regisseur namens Matteo Garrone gewidmet.

Neun Festivalausgaben später, im aktuellen Crossing-Europe-Programm sind diese vier mit neuen Arbeiten vertreten (Meiers preisgekrönter Winterdieb ist soeben auch regulär im Kino angelaufen). Die kontinuierliche Begleitung von geschätzten Filmemachern und, wie es hier selbstverständlich ist, Filmemacherinnen ist ein schöner Mehrwert, nicht zuletzt fürs Publikum.

Und es kommen neue Namen hinzu. In diesem Jahr stellt das Tribute den Polen Przemyslaw Wojcieszek vor. Der Filmemacher experimentiert seit den späten 90er-Jahren mit den Mitteln des Autorenkinos und des postdramatischen Theaters: Seinen zornigen jungen Helden Bogus, der in der polnischen Gegenwart eine Revolution anzetteln will, lässt er mit dem Baseballschläger auf Autos los.

Auf der Leinwand wird dazu ein schrilles Konzert von Autoalarmtönen gegeben. In der Bühnenversion von Made in Poland ereignet sich Bogus' Ausbruch in der Tradition des unsichtbaren Theaters vor versammeltem Publikum auf einem Parkplatz, bevor man für den weiteren Verlauf dieser rotzigen, energetisch dargebotenen Passionsgeschichte in einen Saal einzieht.

Akribische Chronisten

In einer improvisierten Lecture, die anschaulich machte, wie der Regisseur seine Stoffe im jeweiligen Medium adäquat und damit sehr unterschiedlich adaptiert, erzählte Wojcieszek auch, dass die Einladung zu Crossing Europe wesentlich zur Sicherung seiner frühen Filme beigetragen hat.

1974, im selben Jahr wie der polnische Regisseur, kommt in Prag ein Bub namens Honza auf die Welt. Die Filmemacherin Helena Trestikova, eine Freundin seiner Mutter Jana, filmt die Schwangerschaft und die Geburt. Ihre Präsenz mit der Kamera wird Teil von Honzas Leben.

Auch sein Vater ist ein akribischer Chronist. In Soukromy vesmir / Private Universe verdichtet Trestikova dieses Material, welches ein halbes Leben und einen politischen Systemwechsel beinhaltet, zu einer zart melancholisch gefärbten Zeitreise. Anhand der Familiengeschichte entsteht ein Panorama zweier Generationen. Honza, dessen Kindheit von Meldungen über den Fortschritt der Raumfahrt begleitet wird, bekommt am Ende, als bald Vierzigjähriger, eine Miniaturrakete als Geburtstagsüberraschung. Dass sie erst beim zweiten Mal zündet, passt zum dezent beiläufigen Gestus dieses Films.

Waffenerprobungen

Private Universe läuft in der Panorama-Dokumentarfilmsektion, die eine ganze Reihe profilierter Arbeiten aufzuweisen hat. Peter Liechtis Vaters Garten etwa, der ebenfalls eine spezifische, konfliktreiche Eltern-Kind-Beziehung zum Generationenporträt erweitert. Oder Materia oscura / Dark Matter von Massimo D'Anolfi und Martina Parenti: Der Film unternimmt einen nahezu unkommentierten Lokalaugenschein im militärischen Waffenerprobungsgelände Poligono Sperimentale del Salto di Quirra auf Sardinien. Hier hat sich Geschichte ganz buchstäblich (kraterförmig) in den Schauplatz eingeschrieben.

Kinder. Wie die Zeit vergeht. ist übrigens der Titel eines Dokumentarfilms von Thomas Heise, der ebenfalls regelmäßig in Linz zu Gast ist. Seine neue Arbeit, die hier am Samstag noch zu sehen ist, heißt schlicht: "Gegenwart". (Isabella Reicher, DER STANDARD, 27.4.2013)