Ryan Mitchell: "Ich glaube, dass Menschen eine ihnen innewohnende Begabung für Empathie oder Gewalt haben." 

Foto: Steven Miller

Ab Donnerstag ist die Company aus Seattle beim Donaufestival in Krems zu sehen.

Krems - Performance ist eher ein Hilfsbegriff für das, was die Gruppe Saint Genet macht. In der 2004 von Ryan Mitchell unter dem Namen Implied Violence gegründeten Company aus Seattle sind mittlerweile sechzehn Kunstsparten vertreten. In den Stücken fließen Honig und Blut (echtes), die Tänzer arbeiten gezielt unter Drogeneinfluss; die Performances haben rituellen Charakter, die Installationen nehmen Anleihen in der bildenden Kunst. Zusammen arbeiten sie an ästhetischen Deklarationen, die vor allem auf den Überzeugungen ihres Schutzpatrons Jean Genet fußen (benannt hat sich die Gruppe nach Jean-Paul Sartres Buch Saint Genet).

Mit der vor allem im Bezug auf Gewalt nicht jugendfreien Arbeit The Dorothy K. war die von Tomas Zierhofer-Kin für Europa entdeckte Gruppe 2010 noch unter ihrem alten Namen zum ersten Mal beim Donaufestival zu Gast. Nun ist sie mit einer Uraufführung wiedergekehrt, in der die Recherchen der letzten drei Jahre zusammenfließen: Paradisiacal Rites.

STANDARD: Sie haben den Namen in Saint Genet geändert. Warum?

Mitchell: Als ich Implied Violence 2004 gegründet habe, war ich 22 Jahre alt. Ich wollte nun meine Praxis um neue ästhetische Aspekte erweitern. Implied Violence war dafür einfach zu "branded".

STANDARD: Antonin Artauds "Theater der Grausamkeit" wird oft mit Ihrer Arbeit in Verbindung gebracht. Inwiefern trifft das zu?

Mitchell: Meine Arbeit hat mit Artaud viel zu tun. Ich denke, mittlerweile ist es der deutsche Begriff des Gesamtkunstwerks, der meine jetzige Arbeit gut erfasst. Das Ineinandergreifen vieler Kunstsparten als Gesamtinszenierung.

STANDARD: Was ist der zentrale Punkt an Artaud, der Ihnen gefällt?

Mitchell: Was mich überzeugt an Artaud und auch an Genet, ist die Aussage, dass es eigentlich keine Erlösung gibt. Das ist für meine Arbeit wichtig, aber auch dafür, wie ich mein Leben führe.

STANDARD: Die Themen von "Paradisiacal Rites" sind Charles Manson, das Massaker von Jonestown (Massensuizid von Sektenanhängern, Anm.), aber auch die Oscars. Wie passt das alles zusammen?

Mitchell: Es geht um Menschen, die wie Charles Manson in Amerika zu Heiligen geworden sind, wenn auch durch Negativzustimmung. Die Manson-Prozesse haben mich interessiert als eine Ebene von "American Hysteria". Diese markiert einen Punkt, an dem poetische und narrative Wahrheit kollidieren: Manson z. B. ist nicht des Mordes angeklagt; er hat nie jemanden umgebracht, nur dazu angestiftet; das wissen die wenigsten. Ich möchte also Hysterie ansprechen. Auch die Oscars sind eine amerikanische Obsession.

STANDARD: Sie verwenden viel organisches Material: Honig, Blut, Erde, Blumen. Beziehen Sie sich damit auf Joseph Beuys?

Mitchell: Unbedingt. Die Arbeit von Saint Genet versteht sich auch als Hommage an die Persona eines Künstlers. Wenn Sie also Honig und Blut sehen, dann ist das meine Verehrung für Joseph Beuys. Ich liebe ihn, ihn als Figur. Übrigens die Blutegel, das Fließen des Blutes ist ein Bild, das sich auf das Martyrium des heiligen Sebastian bezieht. Ich als Erzähler am Pult trinke während der Vorstellung nur Wein, kein Wasser, dann fällt irgendwann der Blutegel ab, ich blute wieder. Der Einsatz von Blutegeln ist besser als bewusste Verletzungen; es ist schöner, außerdem bin ich kein Freund des Schmerzes.

STANDARD: Sie schreiben die Texte. Wie entwickeln Sie diese?

Mitchell: Ich starte immer mit einer Gruppe von Dramaturgen und einer Recherche. Für den Text verwende ich dann auch Dokumente, z. B. aus Biografien.

STANDARD: Hat Ihre Arbeit einen religiösen Kontext?

Mitchell: Es gibt nur sehr wenige wirklich wichtige Fragen im Leben. Ich bin nicht religiös, ich glaube an keinen Gott. Aber ich glaube, dass Menschen eine ihnen innewohnende Begabung für Empathie oder eben Gewalt haben. Ich denke, rituelle Orte wie unsere Installation rufen genau diese Empfindungen ganz ehrlich ab. Ich interessiere mich also weniger für Religion als für die atavistische Natur des Menschen.

STANDARD: Sie beziehen sich auf den von Artaud geprägten Begriff des Nicht-Seins. Können Sie das näher erklären?

Mitchell: Gemeint ist, dass man als Performer in einem Moment der Aktion nichts ist als diese Aktion. Wenn das gelingt, dann ist die Spannung so hoch, dass zugleich alles und nichts passiert. Genau das fehlt mir am Theater heute sehr: Ich wünsche mir, Dinge zu sehen, die wir nicht greifen können, von denen wir aber im Körper wissen, dass sie passiert sind.

STANDARD: Ein Ansatz nach Genet ist das "Gegen-das-Publikum-Inszenieren".

Mitchell: Der Genet-Biograf Edmund White sagt, Genet halte seinem Publikum nie den Spiegel vors Gesicht, sondern immer das Schwert. Das ist natürlich cool, es meint aber auch, dass man das Publikum als teilhabenden Zeugen begreift. Wir lieben das Publikum, aber wir möchten uns nicht verpflichtet fühlen, es zu befriedigen. Das Publikum zu umarmen, das ist eine sehr langweilige Beziehung zu Fremden, die man nicht kennt und denen man deshalb nicht trauen kann.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, Sie wollen nicht, dass Ihre Schauspieler zu zufrieden sind ...?

Mitchell: Bei vielen Schauspielern kommt es mir so vor, als würde ich jemandem zuschauen, der sich selbst dabei zuschaut, wie gut er spielt. Das setzt bei mir eine Abwärtsspirale misanthropischer Gedanken in Bewegung. Davon möchte ich mich in meiner Company fernhalten. Das Stück hat nichts mit dem Schauspieler zu tun. Es ist nicht für den Schauspieler; es ist womöglich fürs Publikum, vielleicht aber auch nicht.

STANDARD: Sie arbeiten mit drogeninduzierten Akteuren. Warum?

Mitchell: Wir haben mit Ether experimentiert. Aus dramaturgischen Gründen verwenden wir jetzt Lachgas-Pillen, in Amerika gibt es die legal im Geschäft zu kaufen. Ich komme aus einer armen Gegend in Reno, Nevada, dort gehören diese sogenannten Whip-its neben dem Kleberschnüffeln zu den ersten Drogen, die Kinder konsumieren. Man wird nur für eine Minute oder so high. Der Sinn ist, dass die Akteure einen anderen Bewusstseinszustand erreichen. Das findet natürlich im geschützten Rahmen statt. Der Drogenkonsum soll konstant misslingende Aktionen generieren. Ich möchte nicht, dass die Tänzer das tun, was sie schon längst wissen.

STANDARD: Schauplatz Ihres nun in Krems gezeigten Stücks ist ein echtes Kornfeld. Wie bringen Sie das Getreide zum Stehen?

Mitchell: Es ist ein Albtraum. Wir haben in Seattle 15.000 Halme geschnitten und ewig daran gearbeitet, dass wir sie auf Silikonbasis am Boden fixieren. Zehn Leute brauchen eine ganze Woche für ein Feld. Wenn wir reisen, können wir es uns also nicht leisten, das Feld zu zerstören. Wir haben nun einen Kompromiss gefunden mit einem zum Teil künstlichen Feld. (Margarette Affenzeller, DER STANDARD, 25.4.2013)