Spaß am Genre: Channing Tatum und Rooney Mara. 

Foto: constantin

Wien - An seinem 50. Geburtstag in diesem Jänner hat sich Steven Soderbergh vom Kino verabschiedet. Einer der interessantesten Regisseure Hollywoods der letzten 25 Jahre will höchstens noch für das Fernsehen arbeiten. Ein von ihm für den US-Kabelsender HBO produziertes TV-Movie wird Mitte Mai im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes präsentiert. Weitere Pläne gibt es nicht. Seine vage Begründung: "Die Tyrannei der Erzählung, zumindest so, wie wir sie momentan definieren, beginnt mich zu frustrieren. Ich bin überzeugt, es gibt eine neue Grammatik irgendwo da draußen."

Mit seinem letzten für das Kino produzierten Film hat er diese neue Grammatik zwar nicht gefunden, aber Soderbergh und sein Drehbuchautor Scott Z. Burns strapazieren zum Abschied die Integrität und Glaubwürdigkeit ihrer Erzählung so weit, wie es vielleicht nur auf der Leinwand möglich ist. Positiv formuliert: Er erweist dem Kino seine letzte Reverenz, indem er voll auf die "suspension of disbelief" - die Aussetzung des Zweifels - durch die überlebensgroßen Bildern setzt.

Side Effects beginnt mit einer Blutlache in einem New Yorker Apartment. Bevor mehr über Opfer und Täter zu erfahren ist, springt die Erzählung drei Monate zurück. Martin Taylor (Channing Tatum) wird nach vierjähriger Haft aus dem Gefängnis entlassen. Die Depressionen seiner Frau Emily (Rooney Mara) scheinen sich aber dadurch nur zu verstärken. Nach einem Selbstmordversuch landet sie bei Psychiater Jonathan Banks (Jude Law), der eine ganze Reihe von Psychopharmaka an ihr erfolglos ausprobiert. Erst das neue Mittel Ablixa scheint Emily zu helfen - bis die Nebenwirkungen einsetzen.

Side Effects beginnt wie ein Thriller über den pharmazeutisch-industriellen Komplex. Beiläufig, aber unmissverständlich zeigt Soderbergh, wie die Arzneimittelkonzerne Verbraucher und Ärzte mit Werbung, Geschenken und Geld um die Finger wickeln. Doch unvermittelt zieht Soderbergh den Erwartungen den Boden unter den Füßen weg, der Film schlägt eine völlig andere Richtung ein. Dieser Trick ist gefährlich, da er riskiert, das Publikum vor den Kopf zu stoßen. Doch es gibt berühmte Vorbilder aus der Filmgeschichte. In Psycho (1960) etwa beginnt Hitchcock mit einem Verbrechen, das nach zwanzig Minuten keine Rolle mehr spielt. In L'avventura von Michelangelo Antonioni aus dem gleichen Jahr verschwindet die scheinbare Hauptfigur auf einer unbewohnten Insel, der Film macht einfach mit zwei neuen Hauptfiguren weiter.

Der Drahtseilakt funktioniert bei diesen Klassikern auch, weil sie ihren Blick weiten. Soderbergh dagegen verengt den Blick von der gesamtgesellschaftlichen Perspektive auf einen Mord. Aus einem Polit- wird ein Erotikthriller, wie man ihn im US-Kino der 1980er-Jahre schätzte. Die Betonung der Form gegenüber dem Inhalt erinnert auch an die Beispiele des italienischen Giallo der 70er-Jahre. Plausibel ist diese Mischung nicht, aber in seiner Zerrissenheit zwischen Gesellschaftskritik und Spaß am Genre bietet Side Effects einen passenden Abschluss für eine Hollywoodkarriere, die sich nie auf das eine oder andere festlegen lassen wollte. (Sven von Reden, DER STANDARD, 25.4.2013)