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Viveca Sten schreibt Krimis ohne Schwedenrätsel: Tatort ist immer der idyllische Schärengarten östlich von Stockholm

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Von Wien nach Stockholm gibt es drei bis fünf Direktflüge täglich - zum Beispiel mit Austrian und Niki. Ein Mietwagen ist für die Weiterfahrt nach Sandhamn nicht nötig oder sogar hinderlich. Die Fähren legen ganzjährig - bis zu viermal täglich - von Stavsnäs Brygga in Stockholm ab, die Fahrzeit beträgt rund eine Stunde. Die Busse Nummer 433 und 434 bringen die Reisenden von der Station Slussen dorthin. Mit den Taxibooten auf Sandhamn (Sandhamns Båttaxi) oder mietbaren Kayaks und Motorbooten können die Inseln in der Umgebung erkundet werden. Infos über Sandhamn: www.destinationsandhamn.se oder www.visitsweden.com

In Viveca Stens jüngstem Krimi "Mörderische Schärennächte" geht es um eine Reihe von Todesfällen, die nichts miteinander zu tun haben scheinen: ein Student, der vermeintlich Selbstmord begangen hat; ein an multiple Sklerose Erkrankter, der keine Feinde hatte; ein solitär lebender Alkoholiker ... Verstreute Spuren führen zur Ausbildungsstätte der Küstenjäger auf der Insel Korsö, wo vor dreißig Jahren ein sadistischer Drill herrschte. Was ist damals passiert, das die Mordserie ausgelöst haben könnte? Kommissar Thomas Andreassen löst seinen vierten Fall. Viveca Sten: "Mörderische Schärennächte", Kiepenheuer & Witsch 2013, 416 Seiten, € 15,50.

Foto: Kiepenheuer & Witsch

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Das in Falunrot gehaltene Seglarhotell mit seinen weißen Fensterrahmen am Yachthafen von Sandhamn verströmt eine etwas altmodische Grandezza. Kein Wunder: Es wurde bereits 1897 errichtet - damals noch als Klubhaus der Königlichen Schwedischen Yachtgesellschaft. Innen geht es dagegen umso moderner zu: Das Viersternehaus ist erst in den vergangenen Jahren auf 79 Doppelzimmer erweitert worden, ein Spa mit In- und Outdoorpool ist ebenso vorhanden wie ein Ruhe- und ein Fitnessraum. Kulinarische Empfehlung ist das Värdshus mit lokalen (Fisch-)Spezialitäten und internationalen Weinen.

Stockholm, schön und gut. Aber es ist durchaus denkbar, die Stadt vom Flughafen kommend einfach links liegen zu lassen und gleich eine jener Anlegestationen anzusteuern, von wo aus die Fähren in den Skärgården, den Schärengarten, aufbrechen. Wir haben das so gemacht und Kurs auf Sandhamn genommen: die bekannteste Insel des Archipels vor der schwedischen Hauptstadt und der letzte größere Außenposten, ehe es weiter hinausgeht aufs offene Meer.

Schon die Anreise offenbart Blicke von entrückter Schönheit: Inselchen mit Föhrenwäldern und Felsen, ein paar Häusern und Fischerhütten drauf. Die gleißend weißen Flächen des bis weit in den März hinein zugefrorenen, nur von ein paar Schneisen für die Fähren zerschnittenen Meers und das überirdisch klare, die Dinge scharf konturierende Licht der ersten Frühlingstage erscheinen nach monatelanger fahler Trübheit im Norden wie eine Halluzination.

Relativ sandiger Hafen

Was diese Blicke nicht verraten können: Man befindet sich in einem Gewirr von mehr als 40.000 Inselchen. Ohne die Lotsen, die im 17. Jahrhundert auf Sandhamn angesiedelt wurden, wären Kapitäne nur schwerlich nach Stockholm und wieder hinaus aufs Meer gekommen. Das Wort steht übrigens für "Sand" und "Hafen", und ein großer Sandhaufen war es auch, ehe die Föhren angepflanzt wurden. Wobei "groß" natürlich relativ ist: Von der Ortschaft stapft man in einer halben Stunde durch einen stillen Wald bis zum Strand am anderen Ende der Insel.

Die 110-Einwohner-Ortschaft Sandhamn ist ein Pippi-Langstrumpf-Idyll, in dem nicht einmal die Apfelbäume fehlen. Straßennamen gibt es keine und also auch keinen Briefträger, ebenso wenig befestigte Straßen. Wozu Asphalt, wenn es, mit Ausnahme von ein paar Nutzfahrzeugen, ohnehin keinen Autoverkehr gibt? Kieswege tun's auch, links und rechts gesäumt von den typischen falunroten Holzhäusern mit ihren weißen Einrahmungen und Veranden, begrenzt von angefärbelten Zäunen, aus deren Lücken das Unkraut sprießt. Einige Häuschen bestehen nur aus Schlafzimmer und Küche: Das ist das Seglerdorf, denn einmal im Jahr findet hier eine große Regatta statt. Fast in jedem Garten ist eine Stange mit gehisster Nationalflagge aufgerichtet - man stelle sich dergleichen einmal in Österreich vor!

Meist geht es auf Sandham äußerst beschaulich zu, nur von Juli bis September ist Hochsaison, dann kommen zehntausende Besucher mit der Fähre, begutachten das Idyll, gehen eventuell an den Strand - und fahren mit der letzten Fähre wieder nach Stockholm zurück. Wo sollen sie auch unterkommen: in zwei Hotels oder den paar privat vermieteten Häusern?

Die größte Attraktion auf Sandhamn ist aber mittlerweile ein anderes Haus: jenes der schwedischen Krimiautorin Viveca Sten. Jedenfalls wird die Frage, wo sie denn nun genau auf Sandhamn wohne, hier schon am häufigsten gestellt. Doch die Touristenführer nehmen Rücksicht auf Stens Privatleben, und verraten den genauen Ort nicht. Wir hatten Glück: Uns ließ sie freiwillig hinein in ihr zur Abwechslung in Weiß gehaltenes Haus mit seinen hellen, altmodischen Möbeln und Tapeten mit dünnem Streifenmuster. Viveca Sten wohnt hier mit ihrer Familie, wenn sie Ferien macht - und wenn sie schreibt. Letzteres tut die frühere Chefjuristin der schwedischen Post in den vergangenen Jahren ziemlich häufig.

Millionen Schärennächte

Seit sie das Schreiben für sich entdeckt hat, bringt Viveca Sten jedes Jahr einen neuen Krimi heraus. In deutscher Sprache lagen bis vor wenigen Tagen drei Werke vor, das vierte, Mörderische Schärennächte, ist gerade erschienen. Seit 2008 haben sich ihre Bücher in Schwedisch und mehreren Übersetzungen mehr als eine Million Mal verkauft, die beiden letzten setzten sich vom Start weg auf Platz eins der schwedischen Bestsellerliste und hielten sich dort jeweils zwei Monate.

Wie kam Viveca Sten, die bis dahin lediglich juristische Fachbücher mit Auflagen von zwei-, dreitausend Stück veröffentlicht hatte, überhaupt zum Schreiben von Krimis? "Mein Verleger fragte mich 2005, ob ich nicht Lust hätte, ein Buch über die juristischen Aspekte von Outsourcing zu schreiben - das Thema wäre doch so trendig. Also ging ich am Strand spazieren und wollte mir das durch den Kopf gehen lassen. Doch meine Gedanken nahmen eine andere, unvermutete Richtung. Am Anfang stand das Bild einer an den Strand gespülten, in ein Fischernetz verfangenen männlichen Leiche an einem heißen Julimorgen. Bald werden die Strandgänger kommen, dachte ich, die Kinder mit ihrem Eis. Jetzt liegt nur der Tote da. Wer war er, woher kam er, was ist mit ihm passiert? War es ein Verbrechen, und wenn ja, was steckte dahinter? Das machte mich selbst neugierig, ich spann die Geschichte einfach fort, setzte mich an den Schreibtisch und schrieb in einer Woche das Anfangs- und das Schlusskapitel", erzählt Sten.

Für das ganze Buch brauchte sie dann aber doch eineinhalb Jahre, schließlich schrieb sie ja nur in ihrer Freizeit. "Mein Mann ermunterte mich, das fertige Manuskript einzusenden. Ich war damals so unbeleckt, dass ich auf Buchrücken nachschauen musste, welche Verlag es gibt."

Stammpersonal auf Sandhamn

Das Manuskript wurde sofort angenommen und unter dem Titel Tödlicher Mittsommer herausgebracht. Zusammen mit dem Ort der Handlung - Sandhamn eben - wurde darin zugleich das Stammpersonal vorgestellt. Da ist zunächst Thomas Andreasson von der Polizeidienststelle Nacka, ein Enddreißiger, der private Rückschläge erlebt hat. Seine kleine Tochter ist am plötzlichen Kindstod gestorben, was die Ehe mit Pernilla ins Trudeln bringt, obwohl er sonst ein umgänglicher Durchschnittstyp ist. Viveca Sten über ihn: "Ich wollte zur Abwechslung einmal einen Kommissar einführen, der nicht trinkt, weder depressiv noch soziopathisch ist und sich sein Essen nicht ausschließlich in der Mikrowelle aufwärmt." An Thomas' Seite ist seine Jugendfreundin mit detektivischem Gespür, Nora Linde.

Für ihren Hausverlag und die Region hat sich Viveca Sten - siehe Auflagenzahlen - als Glücksfall erwiesen. Die ersten drei Romane wurden bereits verfilmt und in Skandinavien im Fernsehen ausgestrahlt. Kurz: Sie hat schnell zur ersten Liga der "Schwedenkrimi"-Autoren - Henning Mankell, Stieg Larsson, Camilla Läckberg und anderen - aufgeschlossen.

Ihren Chefjuristinnenjob gab Sten angesichts dieses Erfolgs bereits vor zwei Jahren auf. Die jahrzehntelange einschlägige Erfahrung kommt ihr aber noch in mancherlei Weise zugute. Nicht bloß, weil das Hin und Her mit einem Verlagslektor beim Redigieren mitunter ans Ausverhandeln von Verträgen zwischen Konfliktparteien erinnert; sondern auch die Akkuratheit ihrer Beschreibungen bis ins letzte Detail ist nachweisbar ein Abbild penibler juristischer Texte; und nicht zuletzt hilft ihr die Gewohnheit, strukturiert arbeiten zu müssen: Für ein Buch benötigt sie von der ersten Idee bis zum lektorierten Endprodukt nunmehr ein Jahr, und dann hat es ziemlich genau 400 Seiten, Punkt. Den Plot der nächsten Geschichte hat sie zu diesem Zeitpunkt bereits im Kopf.

Alle Krimis von Sten werden durch zwei Klammern zusammengehalten: ein Verbrechensmotiv und ein Schlüsselwort oder Setting. Das erleichtere ihr das Arbeiten, erklärt sie. In Tödlicher Mittsommer etwa war das Motiv der reine Überlebensinstinkt, das Schlüsselwort die Idylle Sandhamns. In Tod im Schärengarten wiederum das Antriebsmoment ein Streben nach Macht, das Setting die elegante Welt der Segelregatta Gotland Runt.

Geheimnisvolle Ferien

Die Handlung von Stens jüngstem, am 18. April auf Deutsch erschienenen Krimi Mörderische Schärennächte wurde zusätzlich durch eine persönliche Erinnerung angeregt: "Unsere Familie besitzt seit Urgroßvaters Zeiten ein Haus auf Sandhamn, hier verbrachte ich als Kind meine Ferien. Dabei sah ich immer wieder junge Burschen in Uniform und mit Bürstenhaarschnitt vor der Küste paddeln. Damals wirkten sie auf mich so geheimnisvoll wie die Nachbarinsel Korsö, die als militärisches Sperrgebiet der Ausbildung einer Eliteeinheit der schwedischen Marine diente. Und diese jungen Männer waren - wie man erst viel später erfuhr - oft grausamem Drill ausgesetzt. Sie wurden gebrochen, um wieder neu zusammengesetzt zu werden."

Damit hatte Sten den Kern einer Geschichte aus Vertuschung und Rache gefunden - für ein Puzzle, das sich freilich immer auch aus den abertausenden Teilen des beschaulichen Stockholmer Archipels zusammensetzt. Denn trotz all der Krimimorde in den vergangenen Jahren muss hier wohl nicht extra erwähnt werden, dass dergleichen im wirklichen Leben Sandhamns bisher nie vorgekommen ist.