Seine Eltern lässt Peter Liechti in "Vaters Garten - Die Liebe meiner Eltern" von Hasenpuppen verkörpern - so ist das, was sie sagen, besser zu ertragen. Zu sehen ist der Film am 25. 4. und 27. 4. beim Linzer Crossing- Europe-Festival. 

Foto: Peter Liecht

Peter Liechti (62) ist einer der renommiertesten Dokumentarfilmemacher der Schweiz. Für "Das Summen der Insekten" wurde er mit dem europäischen Filmpreis ausgezeichnet.

Foto: Peter Liecht

STANDARD: Zu Beginn von "Vaters Garten" erzählen Sie, dass Sie seit jeher ein schwieriges Verhältnis zu Ihren über 80-jährigen Eltern hatten. Wie klar war Ihnen nun die Perspektive im Film auf sie?

Peter Liechti: Alles andere als klar. Die Perspektive ist bei mir bei jedem Film das größte Problem. Diesmal gab es die klare Deklaration: Wir machen das zu dritt. Ich habe das auch gegenüber den Eltern so erklärt und war positiv überrascht, dass sie sich darauf eingelassen haben. Am Anfang habe ich mich stark über die Fragen eingebracht. Nach relativ kurzer Zeit begann ich mich aber weniger für unsere als für ihre Geschichte zu interessiere. Je genauer ich ihnen zugehört habe - und ich habe das wahrscheinlich das erste Mal als Erwachsener getan, ohne zu protestieren -, desto betroffener war ich von dem, was sie mir erzählten. Ich habe versucht, ihre Welt zu verstehen.

STANDARD: Sie haben die beiden jeweils einzeln interviewt, nie gemeinsam. Warum?

Liechti: Weil sie sich gegenseitig ungemein kontrollieren. Das sind ja sehr eingeschüchterte Leute, jeder auf seine Art. Mutter ist offen, verletzbar, ein sehr reflektierter Mensch. Vater ist, wenn man ihn nur ein bisschen aus der Kontrolliertheit zu locken versucht, einfach verloren. Ich habe am Ende des Drehs einmal beide befragt, das war psychologisch vorbereitet. Hätte ich dieses Gespräch vor allen anderen geführt, hätte ich riskiert, dass der Film geplatzt wäre, bevor er überhaupt richtig begonnen hat. Das war ein Eklat. Vater hat herumgeschrien.

STANDARD: Ihre Eltern sind trotz großer Differenzen bei ihrer Ehe geblieben. Ist diese Form von Pflichtgefühl charakteristisch für diese Generation?

Liechti: Es gibt einen großen Bruch zwischen dieser und der nächsten Generation, also meiner. Es gab diese Idee von Kontinuität. Man lässt sich nicht einfach scheiden, man läuft nicht davon. Dabei hat es etwas unglaublich Beelendes, wenn Leute, die nicht zusammenpassen, sich so leiden machen.

STANDARD: Ein Modell aus dem 19. Jahrhundert ...

Liechti: Einerseits. Aber es gibt auch die andere Seite dieser Idee: Man läuft nicht davon. Man bleibt dabei, übernimmt Verantwortung. Das Leben ist nicht einfach nur zum Genießen da, es gibt auch Pflichten, die man erfüllen muss. Das Wort, das beide unabhängig voneinander am wenigsten mochten, ist Selbstverwirklichung. Jeder schaut nur noch auf sich, keiner ist mehr interessiert am anderen. Es war für mich wie die neue Ausleuchtung eines Begriffs, den ich als selbstverständliche Errungenschaft gesehen habe. Es ist für mich sehr zweischneidig, was da im Film passiert. Ich bin mit einer viel rechthaberischeren Attitüde an die Sache herangegangen, als ich aus ihr wieder herausgekommen bin. Ich dachte am Anfang immer noch mit einer gewissen Herablassung an ihre antiquierten, hinterwälderischen Ansichten und war überzeugt, dass wir das überwunden haben und vieles jetzt besser ist. Es ist auch vieles besser geworden, aber nicht alles.

STANDARD: Sie sprechen von der Aushöhlung bestimmter moralischer Imperative?

Liechti: Es gibt Werte dieser Generation, die verschwinden werden und die wir vermissen werden. Werte wie Verantwortung, ein soziales Verhalten, das nicht parteimäßig diktiert, sondern ganz natürlich ist. Wenn einer ein Problem hat, dann hilft man ihm. Die Verluderung im Umgang miteinander, der Mangel an Respekt vor den Bedürfnissen der anderen - das sind Dinge, die auch mich zu beschäftigen beginnen. Durch den Film ist etwas möglich geworden, was ich wahrscheinlich anders nicht geschafft hätte: eine gewisse Objektivierung dessen, was da ist - der Verwandtschaft, des Schmerzes, auch der Versöhnung, ein Stück weit.

STANDARD: Sie zeigen Ihre Eltern nur in Alltagsszenen, aber nicht in den Interviews - stattdessen sind zwei Hasenpuppen zu sehen. Die Stimmen sind nachsynchronisiert. War diese Metaebene von Anfang an im Konzept so angelegt?

Liechti: Ja, und die allergrößte Angst war, ob die Ebenen zusammengehen, ohne dass ich mich lächerlich mache. Ich wollte keine Interviews mit meinen Eltern filmen. Es ging um eine Annäherung, Interviews wären eine Distanzierung gewesen. Ich brauchte nur den Ton. Mit einem Bild wäre es ein Verhör geworden: "Sag mal, wie war das eigentlich, als Mutter immer geweint hat?" Das kann man einen Hasen fragen, aber nicht den eigenen Vater. Deswegen habe ich einen Hasen genommen, so wie Joseph Beuys dem toten Hasen die Kunst erklärte. Der zweite Grund war: Meine Eltern sagen schreckliche Dinge. Weil es dokumentarisch ist, kann dies sehr schnell einmal die Figur kosten. Dann ist die Sympathie im Keller. Wenn man das mit der Niedlichkeit und der Ironie übersetzen kann, die diese Tiere ausdrücken, bleibt es auf einer artistischen Ebene.

STANDARD: Die Verfremdung funktioniert wie eine Lupe, die man auf die Sprache legt.

Liechti: Ich habe mir, während ich den Film geschnitten habe, oft gedacht: Wir haben das alles schon hundert Mal gedacht, aber ich habe es noch nie so deutlich gehört. Da spricht jemand die Dinge so schön aus, als wäre es ihm diktiert worden. Mit klaren, einfachen Sätzen, die in ihrer Künstlichkeit fast literarisch sind. Dieses Changieren zwischen Naivität, Unbeholfenheit und Ehrlichkeit hat am Schluss etwas Wahres.

STANDARD: Es ist fast zu deutlich.

Liechti: Es schmerzt. Wenn man es so hört, tut's weh. Aber eigentlich tut es die ganze Zeit weh. Die Haltung ist ja da. Ich bin in diesem Klima aufgewachsen. Jemand hat einmal gesagt, man hat seine Eltern wie eine Kugel im Kopf. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 23.4.2013)