"Es war leichter, Bundespräsident zu werden, als VSStÖ-Obmann", sagt Heinz Fischer.

Fischer kommt auch im Video zum ÖH-Wahlsystem vor.

Illustration: derStandard.at/Usslar

STANDARD: Herr Bundespräsident, Sie bezeichnen die Hochschülerschaft gern als "Schule der Demokratie". Wie ist das zu verstehen?

Heinz Fischer: Als ich im Gymnasium war, war die Schuldemokratie noch nicht sehr entwickelt. Das Schulsystem war eine Fortsetzung des System der Ersten Republik, eher hierarchisch organisiert. Dann kam ich in die Hochschülerschaft, wo unterschiedlichste politische Auffassungen aufeinandertrafen und man lernen musste, sich um Mehrheitsentscheidungen zu bemühen - insofern war es eine Schule der Demokratie. Dass die Universitäten auch eine wichtige Rolle für den Staat und die Demokratie insgesamt einnehmen, ist mir damals ebenfalls sehr bewusst geworden. Es hat in den Sechzigerjahren die ersten wirksamen Bemühungen gegeben, den Unis als solche eine progressive Rolle in der Gesellschaft zu ermöglichen. Ein häufiges Zitat war: Die Universität hat der Gesellschaft nicht eine Schleppe nach-, sondern eine Fackel voranzutragen. Das Universitätsorganisationsgesetz der Siebzigerjahre war Ausdruck dieser Bemühungen.

STANDARD: Durch das von der Wenderegierung umgesetzte Uni-Gesetz 2002 (UG02) fühlten sich die Studenten dagegen sehr bevormundet. Man empfand es als demokratiefeindlich.

Fischer: Ich glaube, dass die Entwicklung eines Landes nicht schnurstracks und gerade verläuft, sondern in einer Pendelbewegung. In Österreich setzte Ende der Sechzigerjahre ein Schwung des Pendels hin zu mehr Aufklärung, Demokratie und Freiheit des Individuums ein, was sich im neuen Universitätsorganisationsgesetz und einer ganzen Reihe von demokratiefördernden Reformen manifestiert hat. Danach hat das Pendel wieder zurückgeschlagen. In der Zeit der Jahrhundertwende und danach hat man das Mehr an Demokratie an den Unis zum Teil wieder zurückgedrängt, aber nicht gänzlich. Ich hatte unlängst ein Gespräch mit Funktionären und Funktionärinnen der ÖH - die sind sehr erfrischend, eigenständig denkend und nehmen sich kein Blatt vor den Mund. Ein großer Fortschritt gegenüber meiner Zeit in der ÖH.

STANDARD: Warum haben Sie sich gegen das UG02 denn nicht starkgemacht?

Fischer: An Demonstrationen habe ich als Nationalratspräsident nie mitgewirkt. Mein Platz war im Parlament. Und während ich mit Hertha Firnberg sehr gut zusammenarbeiten konnte und auch als Wissenschaftsminister ein gutes Einvernehmen mit der ÖH hatte, hat die Ministerin zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Frau Gehrer, Auffassungen vertreten, die deutlich gegen die ÖH gerichtet und die nicht leicht zu verändern waren.

STANDARD: Zu Ihrer Zeit in der ÖH lag die Wahlbeteiligung bei über 60 Prozent. Heute ist es gerade einmal halb so viel. Was hat sich geändert?

Fischer: Da es in der Zeit von 1933 bis 1945 keine Wahlen gegeben hat, wurde die Tatsache, dass es danach wieder ein pluralistisches Wahlrecht gab, so erlebt, wie wenn jemand lange Zeit kein Brot zu essen bekommen hat. Bei den Nationalratswahlen 1945 und 1949 war die Wahlbeteiligung über 90 Prozent. Da ist jeder, der irgendwie kriechen konnte, zur Wahlzelle gegangen und hat gesagt: Hurra, ich darf wieder wählen! Was damals eine große Errungenschaft war, ist später zur Selbstverständlichkeit geworden.

STANDARD: Was bedeutet es demokratiepolitisch, dass sich so wenige Studierende für ihre politische Vertretung interessieren?

Fischer: Erstens bedeutet es, dass sie auf ein Recht verzichten, dessen Wert sie offenbar unterschätzen. Zweitens kann es auch bedeuten, dass sie mit den Zuständen nicht so unzufrieden sind, dass sie jede Möglichkeit nützen wollen, um sie zu ändern. Eine niedrige Wahlbeteiligung bedeutet auch, dass keine revolutionäre Stimmung vorhanden ist. Die höchsten Wahlbeteiligungen hatte Österreich in den Dreißigerjahren und nach 1945. Das heißt, eine hohe Beteiligung beweist einerseits die Lebendigkeit der Demokratie, zu einem gewissen Grad kann sie aber auch Ausdruck von scharfen gesellschaftlichen Gegensätzen sein.

STANDARD: Wenn man über Ihre Studienzeit recherchiert, stößt man unweigerlich auf den Fall Taras Borodajkewycz - einen antisemitischen Wirtschaftsprofessor, den Sie öffentlich angeprangert haben. Gibt es auch heute noch eine studentische Sensibilität gegenüber solchen heiklen Themen?

Fischer: Ja. Nicht dass ich übersehe, dass es immer noch Reste von bestimmten unakzeptablen und inhumanen Einstellungen gibt, aber ich glaube, Antisemitismus ist an den Unis heute nicht en vogue. Und eine Pressekonferenz eines Professors, in der er sich vor johlenden und schenkelklopfenden Studenten über jüdische Intellektuelle lustig macht - das gäbe es heute nicht mehr. Da ist viel mehr Hygiene erreicht worden.

STANDARD: Viele akademische Einrichtungen haben erst kürzlich begonnen, die dunklen Kapitel ihrer Geschichte aufzuarbeiten. Das erscheint reichlich spät.

Fischer: Ja, das ist ein tausendfach diskutiertes Problem. Ich denke, unmittelbar nach der Niederlage des Nationalsozialismus hat es eine derartige schwierige Gemengelage, eine Verstrickung zwischen Schuld, Unschuld und Teilschuld gegeben, dass in der Praxis klare individuelle Unterscheidungen vielfach schwierig waren. Heute tun wir uns leichter, weil es jetzt um eine grundsätzliche Positionierung geht: Der Nationalsozialismus war ein verbrecherisches Regime, der Holocaust war das größte Massenverbrechen der modernen Geschichte. Dieser Satz ist heute unbestreitbar.

STANDARD: Sie sind in Ihrer Studienzeit zwar für den Verband Sozialistischer Studenten (VSStÖ) als Spitzenkandidat angetreten, als Obmann wurde aber Hannes Androsch bevorzugt. Androsch hat später behauptet, Sie hätten damals gesagt, es sei leichter, Bundespräsident zu werden, als Obmann der sozialistischen Studenten ...

Fischer: Ja, ich habe gelesen, dass der Hannes das gesagt hat.

STANDARD: Anscheinend hat Androsch ja recht gehabt.

Fischer: (lacht) Für mich hat es offenbar gestimmt. Die haben mich zwar gern als Spitzenkandidat mit einer, sagen wir, freundlichen Außenwirkung aufgestellt, aber bei internen Wahlen ist streng fraktionell gewählt worden, da konnte ich mich als "Linker" nicht durchsetzen. Also ist es im Prinzip richtig: Es war leichter, Bundespräsident zu werden, als VSStÖ-Obmann. (Tanja Traxler/Dominik Zechner, DER STANDARD, 23.4.2013)