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Die Wucht der Explosion tötete beim Boston-Marathon drei Menschen.

Foto: AP Photo/Elise Amendola, File

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Die Wärmebildkamera der Ermittler zeigt Dschochar Zarnajew in seinem Versteck in einem Boot in Watertown.

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Wien - Hinter jedem jungen Muslim, der sich dem radikalen Islam und in der Folge der Gewalttätigkeit zuwendet, steckt eine individuelle Geschichte. Bei den beiden Brüdern aus Tschetschenien besteht sie aus zwei Akten, einer Kindheit mit Kriegs- und Fluchterfahrung und einem Leben im Westen, wo sie selbst zu Tätern werden.

Islamwissenschafter und Soziologen befassen sich spätestens seit 9/11 intensiv mit der Frage, wie so eine Radikalisierung vor sich geht. Zwar suchen islamistische Terroristen ihr Know-how meist in den einschlägigen Ländern wie Pakistan, radikalisiert werden sie jedoch oft im Westen, und zwar sowohl im Nahen/Mittleren Osten geborene Muslime - klassisch die 9/11-Attentäter - als auch solche der zweiten Generation. 

Auflehnen gegen die Eltern

Der Franzose Olivier Roy beschreibt ihre Radikalisierung nicht als islamischen Import – sondern vielmehr als "pathologische Reaktion auf die Verwestlichung des Islam", auf den Verlust der Kultur ihrer Eltern. Dieser erfolgt durch Einwanderung im Westen, aber auch durch den Import westlicher Lebensweisen in muslimische Gesellschaften. Laut Roy ist die Hinwendung der Jungen zum Islamismus als Ausdruck des Verschwindens der traditionellen Kultur zu sehen. Typisch ist, dass die meisten dieser radikalisierten Kinder den Kontakt zu ihren Familien abbrechen. Es ist auch ein Auflehnen gegen die Eltern.

In einer ersten Phase ist es nichts anderes als jeder andere Fundamentalismus auch: eine Wiedergeburt in der "wahren" Religion. Warum wird jedoch die Abzweigung in die Gewalt genommen? Die islamophoben Antworten sind klar - und sie haben jetzt wieder einmal Hochkonjunktur -, aber der Soziologe hat noch andere.

Neuer Wein in alten Schläuchen

Der radikale Islamismus ist ein neuer Inhalt in einem alten Gefäß: Die Revolte gegen die etablierte Ordnung und ganz konkret gegen die von den USA dominierte Weltordnung, den guten alten Imperialismus, hat ein neues Gesicht. Diese These ist mit dem Zustrom von Konvertiten zu islamistischen Gruppen gut zu belegen - zu sehen etwa in der deutschen Salafistenszene. Die Islamisten rekrutieren heute dort, wo früher die extreme Linke rekrutierte. Die alte Linke ist längst verbürgerlicht, in die ehemaligen Arbeiterviertel sind in vielen europäischen Städten heute muslimische Einwanderer zugezogen, schreibt Roy schon vor einigen Jahren in der Zeit.

Demnach hätten islamistische Terroristen sogar die Inszenierung ihrer Gewalt von der westlichen radikalen Linken kopiert: Die Geiselvideos Al-Kaidas im Irak waren von denen der italienischen Roten Brigaden - Stichwort Aldo Moro - nicht so weit entfernt.

"Al-Kaida ist cool"

Auch der norwegische Islamismus-Forscher Brynjar Lia sieht in der "einfachen Botschaft von Besatzung, Ausbeutung und Entweihung" von Al-Kaida eines ihrer PR-Geheimnisse. Es ist eine Befreiungsbotschaft, und sie ist "cool" und vor allem auch global. Dass ihr die Supermacht USA nach 9/11 den "Krieg" erklärt hat, war nur eine Aufwertung.

All das machte Al-Kaida erfolgreicher als frühere islamistische radikale Gruppen mit ihren verkopften Konzepten von einer islamischen Staatsordnung. Lia hat die Schriften von Abu Musab al-Suri studiert, einem Strategen Al-Kaidas, der schreibt, dass Muslime "ihre Leben nicht für einen utopischen islamischen Staat opfern" werden, aber sehr wohl für Al-Aqsa in Jerusalem. "Der Islam wird angegriffen" ist die einfache populistische panislamische Botschaft, auf die hin sich Jihadisten in Bewegung setzen.

Die Stärke - das Fehlen politischer Visionen - ist zugleich eine Schwäche. Und "coolness" ist auch eine Qualität, die mit der Zeit vergeht. Und wie man aus der  Geschichte ablesen kann, haben extremistische Bewegungen überhaupt eine beschränkte Lebensdauer. Das Problem ist: Es folgt meist eine neue. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 22.4.2013)