Möchte keine beliebige Zwischenstation im Festivaltourprogramm sein: Brigitte Fürle ist ab der Spielzeit 2013/14 künstlerische Leiterin des Festspielhauses St. Pölten.

Foto: Festspielhaus St. Pölten

STANDARD: Woran wird das Publikum die neue künstlerische Leitung des Festspielhauses merken?

Fürle: Die ersten Zeichen wird es schon am Bahnhof geben, Twins - Nachfolgemodelle der Enzis aus dem Wiener Museumsquartier - werden wie ein Leitsystem vom Bahnhof ins Festspielhaus führen. Die Fassade, die jetzt sehr verbarrikadiert ist, wird geöffnet, diese Öffnung zur und in die Stadt ist mir sehr wichtig. Und dann geht es, von außen nach innen kommend, natürlich um die Produktionen. Natürlich fokussiere ich auf die große Bühne, aber ich mache auch den Kammermusiksaal wieder auf, der jetzt als kleine schwarze Box funktioniert hat. Das sind schon meine Hauptpflöcke. So gesehen erhoffe ich, dass es eine Temperatursteigerung geben wird im Haus.

STANDARD: Auch eine Steigerung des Frauenanteils im künstlerischen Bereich? Nie zuvor haben so viele Frauen Kulturinstitutionen geleitet, doch immer noch schaffen es viel weniger Künstlerinnen auf die Bühne als Männer. Wollen Sie dem gegensteuern?

Fürle: Natürlich bemühe ich mich darum, es gastieren ja auch in meiner ersten Saison schon ganz großartige Frauen in St. Pölten. Einige Projekte konnten wir leider nicht umsetzen. Insofern könnten es immer noch mehr sein. Natürlich würde ich gern Sasha Waltz holen, aber das hat nicht geklappt.

STANDARD: Wie entgeht man der Gefahr, eine x-beliebige Station auf dem Tourneeplan der üblichen Verdächtigen zu werden?

Fürle: Es gibt nur eine gewisse Liga von Künstlern, die für die große Bühne infrage kommt. Und wie auch schon in Berlin interessiert mich der Blick über Europa hinaus. Es stimmt, die Programme der Performancefestivals gleichen einander enorm, alle betonen, wie und dass sie sich mit der realpolitischen Situation auseinandersetzen. Ich frage mich dann immer: Wo bleiben die Sehnsuchtsräume und Utopien? Das ist ja erst einmal die Aufgabe von Theater. Mich interessiert ein gewisser Realdokumentarismus nicht. Wir müssen uns im Dialog bewegen und nicht im geografischen oder gar nationalen Branding: Das ist definitiv am unspannendsten. Denn in jeder Stadt der Welt gibt es mittlerweile multiple ästhetische Identitäten.

STANDARD: Fehlt Ihnen für solch ein Vorhaben nicht das großstädtische Publikum in St. Pölten?

Fürle: Keineswegs! Es gibt hier eine rege Kulturszene, nur das Festspielhaus hat sich noch nicht ganz so weit vorne positioniert, wie es eigentlich könnte. In Frankreich dezentralisiert man Kultur schon seit vielen Jahren. Unter dem Dachnamen "Scène Nationale" gründete man Häuser in kleinen Städten, man denkt dort nicht mehr in großen Modulen wie bei uns mit den Salzburger und Bregenzer Festspielen, den Wiener Festwochen. Es geht zunehmend um die Suche nach einer intimeren, tieferen Begegnung.

STANDARD: Reden Sie sich damit den Wechsel nach St. Pölten schön?

Fürle: Natürlich werde ich das Berliner Publikum manchmal vermissen. Aber selbst weltgereiste Künstler wie Cherkaoui sagen, sie würden gern in St. Pölten leben, denn diese Ruhe, das Überschaubare, hat etwas. Und für uns ist es angenehm, in einer sogenannten Provinzstadt zu arbeiten, das fängt bei den Hotels an, die kosten in St. Pölten halb so viel wie in Berlin. Das wirkt sich auch auf Langzeitprojekte aus.

STANDARD: Ist es nicht ziemlich großzügig, dass teure Gastspiele nur ein-, maximal zweimal aufgeführt werden?

Fürle: Ich möchte aus dem Gastspieldenken mehr herausholen; deshalb baue ich die Artists-in-Residence-Schiene massiv aus: Künstler und deren Kompanien werden Lebens- und Arbeitszeit im Festspielhaus verbringen, können sich hier etablieren und aus der Geschwindigkeitsspirale einmal herauskommen. Künstler brauchen Räume, wo sie arbeiten können. Und Zeit. Beides gibt es selten im Festivalbetrieb, denn die Repertoiretheater machen um 14 Uhr den Lappen runter, weil sie alle Vorstellung haben. Wir können mit diesem wunderbaren Festspielhaus diese idealen Arbeitsbedingungen herstellen und, etwa durch Previews und Workshops, die Begegnung zwischen Künstlern und Publikum intensivieren. Zeitluxus ist, was wir in unserer beschleunigten Welt wirklich benötigen.

STANDARD: Zur Eröffnung leisten Sie sich den Luxus, Alain Platels "C(h)oeurs" zu zeigen, das er auf Einladung von Gerard Mortier am Teatro Real in Madrid erarbeitete.

Fürle: Ich schätze Mortier sehr. Abgesehen davon, dass er ein Markstein in der Festivallandschaft war mit seinen Salzburger Festspielen, der Gründung der Ruhrtriennale: Er schafft genau diese Arbeitsbedingungen, von denen ich vorher gesprochen habe. Und dass er jemanden wie Alain Platel mit seinem Ballett C de la B einlädt, ist eine unglaublich tolle, mutige, beispielhafte Leistung. Wenn einen dann Platels Kreation, mit Chören von Wagner und Verdi, zu Tränen rühren kann - dass dies noch möglich ist und auf Tour gehen kann: Dann habe ich noch lange keine Angst vor Beliebigkeit.   (Andrea Schurian, DER STANDARD, 12.4.2013)