Das österreichische Nationalratswahlsystem ist ein relativ starres System. Die von den Parteien vorgegebene Listenreihung der Kandidaten kann vom Wahlvolk nur schwer verändert werden, da die Hürden, an denen Vorzugsstimmen greifen, relativ hoch sind. Das führt zu einem erheblichen Einfluss der Parteizentralen auf die Auswahl der Parlamentarier. Eine Personalisierung des Wahlsystems tut dringend not. Dementsprechend ist auch die Kritik der Initiative "Demokratie jetzt" am aktuellen System zutreffend, doch leider sind die von den Proponenten des Volksbegehrens gemachten Reformvorschläge eher kontraproduktiv.

Der Vorschlag von "Demokratie jetzt" basiert auf einem gemischten Wahlsystem und orientiert sich dabei am Modell der deutschen Bundestagswahlen: Die eine Hälfte der Abgeordneten soll in Einerwahlkreisen gewählt werden. Das bedeutet, in einem zu definierenden Wahlkreis (zum Beispiel dem oberösterreichischen Mühlviertel) setzt sich bei einer Personenwahl ein/e Kandidat/in durch. Erreicht diese/r nicht die absolute Mehrheit der Stimmen im ersten Wahlgang, so soll wie bei der Bundespräsidentschaftswahl eine Stichwahl im zweiten Wahlgang stattfinden.

Die andere Hälfte der Kandidaten wird nach wie vor über Parteilisten gewählt. Da die Kandidaten in den Wahlkreisen mittels Mehrheitswahlrecht gewählt werden, sollen die Listenkandidaten die bundesweite Verhältnismäßigkeit wieder herstellen. Dieses Verfahren soll gewährleisten, dass beispielsweise 13 Prozent der Abgeordneten Grüne sind, wenn 13 Prozent der Bevölkerung grün wählen, dass die Wähler aber gleichzeitig mehr Einfluss auf die Personenauswahl ausüben können. Ist dem aber wirklich so?

Ein Mehrheitswahlrecht führt in der Regel dazu, dass der Einfluss der Wähler/innen nicht ausgeweitet, sondern beschränkt wird. Es bevorzugt in der Regel die großen Parteien bzw. Parteien mit regionalen Hochburgen. Das Match um die Wahlkreise würden sich in der Regel SPÖ und ÖVP ausmachen. Nur im Wiener Stadtzentrum hätten auch die Grünen eine Chance auf ein solches Direktmandat.

Viel problematischer als der Fokus auf die Großparteien ist jedoch die Tatsache, dass viele Wahlkreise schon vor der Wahl entschieden wären. Es steht ja wohl außer Zweifel, dass fast alle Sitze in Tirol und Vorarlberg an die ÖVP gehen würden. In weiten Teilen Wiens kann nur die SPÖ Wahlkreise gewinnen. Der Einfluss der Wähler/innen ist in diesen Gegenden daher gleich null. Dieses Phänomen kennt man aus angelsächsischen Ländern. Die Parteien konzentrieren sich dann ausschließlich auf einige wenige unsichere, aber wahlentscheidende Regionen. In weiten Teilen des Landes findet kaum ein Wahlkampf um die Wahlkreissitze statt.

Kandidaturen in Einerwahlkreisen wirken zudem wie starre Listen, da man jene Person wählen muss, die von der jeweiligen Partei als Wahlkreiskandidat/in vorgeschlagen wird. Das bedeutet, es haben wieder die Parteien das Heft fest in der Hand. Eine Möglichkeit, z. B. im Mühlviertel nicht den ÖVP-Spitzenkandidaten, sondern einen schwarzen Alternativkandidaten zu unterstützen, gibt es bei dieser Einzelkandidatur nicht. Genau das sollte aber doch wohl der Sinn einer stärkeren Personalisierung des Wahlrechts sein. Zudem neigen Parteien in Mehrheitswahlsystemen dazu, weniger Frauen und Minderheitskandidaten aufzustellen. Je kleiner die Wahlkreise sind, desto weniger junge Frauen, Migranten und Community-Kandidaten schaffen den Sprung ins Parlament.

Der Vorschlag des Volksbegehrens sieht kein reines Mehrheitswahlrecht vor; wie zuvor erläutert, wird die andere Hälfte der Abgeordneten nach einem Listensystem mit Verhältnisausgleich gewählt. Dabei soll das Vorzugsstimmensystem des Europäischen Parlaments gelten, das vorsieht, dass Kandidaten dann direkt gewählt sind, wenn sie sieben Prozent der Parteistimmen als Vorzugsstimmen erreicht haben. Andreas Mölzer hat auf diese Weise zuletzt den Einzug ins Europäische Parlament geschafft - ermöglicht durch das damals sehr schwache FPÖ-Ergebnis und die bei EU-Wahlen übliche geringe Wahlbeteiligung. Bei Nationalratswahlen hingegen ist diese Hürde vor allem für die Kandidaten größerer Parteien de facto nicht zu knacken.

Dabei gibt es vielerorts durchaus attraktive Wahlsysteme, die ebenfalls eine Personalisierung gewährleisten, ohne die Verhältnismäßigkeit zu gefährden. In Hamburg und Bremen etwa besteht die Möglichkeit, fünf Stimmen auf Kandidaten aller Parteien aufzuteilen. Drei Stimmen für Kandidaten der SPD und zwei für jene der FDP bedeuten zum Beispiel, dass diese Personen innerhalb der Parteilisten vorgereiht werden und gleichzeitig die SPD 3/5 einer Stimme bekommen hat und die FDP 2/5. Oder: In Australien oder Kanada gibt es das attraktive System der übertragbaren Einzelstimme (Single Transferable Vote). Dabei können die Wähler/innen eine Reihung ihrer präferierten Kandidaten vornehmen, egal aus welcher Partei diese kommen. Überschreitet eine Person die für die Wahl benötigten Stimmen, werden die Zweitpräferenzen aller überschüssigen Stimmen auf die weiteren Kandidaten aufgeteilt. Das Verfahren wird wiederholt, bis die Anzahl der Gewählten der Anzahl der zu vergebenden Sitze entspricht.

In traditionellen angelsächsischen Systemen gehen ja aufgrund des " Winner-takes-all"-Prinzips oft viele Stimmen verloren. Das System der übertragbaren Einzelstimme garantiert hingegen, dass jede Stimme zählt. - Es gibt also viele Möglichkeiten, die Ziele Personalisierung, Verhältnismäßigkeit, Fairness sowie Chancengleichheit für Frauen und Minderheitengruppen umzusetzen. Das Modell von "Demokratie jetzt" wird diesen Zielen leider nicht gerecht. (Oliver Zwickelsdorfer, DER STANDARD, 12.4.2013)