Nebojsa Nakicenovic führt für die Minimierung des CO2-Ausstoßes wieder einmal Atomkraft ins Treffen.

Foto: Heribert Corn

Standard: Die Internationale Energieagentur IEA kam in einem Bericht 2012 zu dem Schluss, dass es noch immer nicht so aussehe, "als gelänge es, das globale Energiesystem auf einen nachhaltigeren Pfad zu lenken". Teilen Sie die Sorge?

Nakicenovic: Ja, aber ich glaube, dass es machbar ist. Man darf nicht vergessen: Die Internationale Energieagentur zeigt auf, was passiert, wenn wir business as usual verfolgen. Der Zweck dieser Szenarien ist, sie in Zukunft zu vermeiden. Dass sie so eintreten, halte ich für unwahrscheinlich.

Standard: Warum?

Nakicenovic: Das Thema Energie ist mit vielen gesellschaftlichen Fragen verbunden: Sicherheit, Gesundheit, Umweltschutz, Klimaschutz. Tun wir nichts, gibt es bis Ende des Jahrhunderts eine Klimaerwärmung von fünf bis sechs Grad. Zudem wächst die Weltbevölkerung bis 2050 um zwei Milliarden Menschen. Wenn wir so weitermachen wie bisher, dann müssten wir die Primärenergie global bis 2050 mindestens verdoppeln. Das zeigt, dass business as usual kein Weg sein kann.

Standard: Sie haben jüngst in einem Vortrag von fundamentalen Veränderungen gesprochen, die für eine nachhaltige Energiezukunft nötig wären. Wie sollen diese aussehen?

Nakicenovic: Alle Menschen brauchen einen Zugang zu modernen Energieformen. Von den rund sieben Milliarden Menschen weltweit haben ihn derzeit drei Milliarden nicht. Sie müssen feste Brennstoffe wie Holz oder Kohle zum Kochen und Heizen nutzen. Das ist ein unglaubliches Hindernis für die Entwicklung. Und es ist sehr gesundheitsschädlich. Man schätzt, dass etwa vier Millionen Menschen jährlich an den Folgen sterben.

Standard: Hauptverbraucher der Energie sind jedoch die Industriestaaten.

Nakicenovic: Ja, die wohlhabenden Staaten stellen zwar nur 20 Prozent der Energieverbraucher. Sie nutzen aber 80 Prozent der Energie - und verursachen 80 Prozent der Emissionen. Wir sind die Schuldigen. Daher müssen auch wir auf einen neuen Pfad kommen.

Standard: Wie soll das gelingen?

Nakicenovic: Es geht vor allem um eine höhere Energieeffizienz. Das geht vor allem über neue Energiedienstleistungen, beispielsweise über neue Wege bei der Mobilität wie dem kollektiven Transport. Dafür brauchen wir Investitionen, weltweit etwa eine Verdopplung der jetzigen Ausgaben von 1250 Milliarden US-Dollar. Zudem ist eine Entkarbonisierung des Energiesystems erforderlich.

Standard: Was verstehen Sie darunter?

Nakicenovic: Derzeit sind wir global zu 80 Prozent von fossiler Energie abhängig. Gleichzeitig müssen wir den CO2-Ausstoß minimieren. Entkarbonisierung bedeutet, den Kohlenstoffgehalt der weltweiten Energie drastisch zu mindern oder auf null zu bringen. Die Effizienzsteigerung und der Ausbau der erneuerbaren Energien sind der wichtigste Teil der Lösung. Doch man kann nicht über Nacht das System umstellen. Die Nutzung von Kernenergie ist eine weitere Möglichkeit - auch wenn das, insbesondere hierzulande, wegen der vielfältigen Risiken nicht erwünscht ist. Auch ist die CO2-Entfernung aus Fossilenergie und CO2-Speicherung im Zuge der CCS-Technologien (Carbon Capture and Storage, Anm.) eine weitere Alternative.

Standard: Aber ebenfalls eine sehr umstrittene.

Nakicenovic: Risiken sind mit jeder neuen Technologie verbunden. Deswegen dauert es auch lange, bis neue Technologien eine breite Anwendung finden. Zur CO2-Trennung und -Speicherung gibt es derzeit nur mehrere Dutzend Pilotanlagen weltweit. Sie speichern jeweils etwa eine Million Tonnen CO2 pro Jahr. Nur: Wir emittieren weltweit mehr als 30 Milliarden Tonnen jährlich.

Standard: Die USA setzen derzeit große Hoffnung auf Schieferöl bzw. -gas. Feiern fossile Energieträger ein Comeback?

Nakicenovic: Ja und nein. Dadurch, dass nun in den USA erste Schiefergasanlagen in Betrieb genommen wurden, ist der Gaspreis dort stark gesunken. Wenn das anhält, könnten die USA versuchen, ihre Kohle im großen Stil zu exportieren. In Europa haben wir mit relativ hohen Kosten erneuerbare Energien gefördert. Plötzlich käme die günstige Kohle. Aber das Erdgas könnte auch ein Übergangsenergieträger sein. Es ist nur halb so emissionsintensiv wie Kohle, und Gaskraftwerke können schnell eingesetzt werden, wenn es nicht genügend Sonne oder Wind gibt.

Standard: Mit dem "Global Energy Assessment" liegt ein Bericht vor, in dem Sie und Kollegen 41 Wege aufzeigen, wie die Welt bis 2050 mit nachhaltiger Energie zu versorgen wäre. Haben wir tatsächlich diese Auswahl?

Nakicenovic: Ja, wir haben gewisse Freiheiten. Es führt nicht nur ein Weg nach Rom.

Standard: Können Sie ein Beispiel nennen?

Nakicenovic: Wir haben einige Szenarien entwickelt, die sowohl auf Kernenergie als auch auf CCS-Technologien verzichten. Wenn hier der Widerstand zu groß ist, können wir es auch ohne diese Technologien schaffen. Es wird halt nur schwieriger und auch kostenintensiver. Die Folge ist, dass man dann viel mehr in erneuerbare Energien investieren muss. Und man braucht Energienetze zur Überbrückung, falls der Wind einmal nicht weht.

Standard: Die Klimaschutzdebatte hat gezeigt: Trotz der Fülle an wissenschaftlichen Befunden sind politisch verpflichtende Maßnahmen global kaum zu erzielen. Wie gehen Sie als Forscher damit um?

Nakicenovic: Wir wissen, dass die Klimaverhandlungen ins Stocken geraten sind - um es höflich auszudrücken. Es ist nicht klar, ob wir hier Fortschritte machen werden. Wir sind anscheinend noch nicht bereit, für kommende Generation vorzusorgen. Deswegen sage ich: Versuchen wir, andere Probleme zu lösen, die einen unmittelbaren Vorteil für die Menschheit haben. Wenn man das Energieproblem löst, dann entstehen sofort Vorteile für Gesundheit, Umwelt und Entwicklung. Wenn man hier eine langfristige Strategie hätte, ließe sich auch das Klimaproblem als Begleitnutzen der Energietransformation lösen.

Standard: Was genau heißt das?

Nakicenovic: Das große Problem ist die Volatilität. Man verabschiedet energiepolitische Instrumente, und in ein, zwei Jahren ändert man wieder den Kurs. Mal fördert man Fotovoltaik, mal wieder nicht. Wenn wir die Energietransformation nachhaltig erzielen wollen, müssen Politik und Gesellschaft langfristig planen. Ansonsten gehen wir blind hin und her. Dafür haben wir keine Zeit mehr.

(Lena Yadlapalli, DER STANDARD, 10.4.2013)