An der Polytechnischen Schule im 15. Bezirk gibt es die Fachbereiche Holz, Bau, Elektro, Handel und Büro, IT, Dienstleistungen und Tourismus.

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"Die Schüler müssen lernen, dass wir hier arbeiten, nicht basteln", sagt Direktorin Beatrix Poppe.

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Die Metaller bauen Schlüsselbretter.

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Die Lehrstellensuche steht im Zentrum der Ausbildung.

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Schüler suchen auch während des Unterrichts Lehrstellen auf der Plattform des AMS.

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Beatrix Poppe ist seit September 2012 Direktorin der Polytechnischen Schule im 15. Bezirk.

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Heute gibt es Hühnerfilet in Oberssauce und Karotten-Ingwer-Suppe. Mit Schürze und Kochhaube stehen knapp zehn 15-Jährige in der grau-grünen Schulküche, braten Fleisch, schnipseln Petersilie und decken den Tisch. "Seit den Osteferien haben die Schüler wieder einiges vergessen, aber ich lasse sie selbstständig ausprobieren, und bevor es brennt, schreite ich ein", sagt die Lehrerin und lächelt. Es ist Montag und damit Praxistag an der Polytechnischen Schule (PTS) im 15. Bezirk in Wien.

"Riesiges Packerl" an sozialen Problemen

"Das Poly ist eine Schule für Kinder, die einen anderen Hintergrund haben als die, die ins Gymnasium gehen", erklärt Direktorin Beatrix Poppe vor dem Rundgang durch ihre Schule. Sie sitzt in einem hellen Büro an einem großen Schreibtisch. Das Telefon klingelt in regelmäßigen Abständen, eine Lehrerin fragt nach dem Raumplan, der Schulwart teilt mit: Die Schmiererei im Lift ist entfernt. "Das passiert leider hin und wieder", sagt die Direktorin. Ihre Kinder kämen mit einem "riesigen Packerl" an sozialen Problemen an die Schule. Das sei wohl der Grund, warum das Poly oft als Restschule bezeichnet werde.

Ruf nach Reform

Die Polytechnische Schule, kurz "Poly", füllt im österreichischen Schulsystem die Lücke zwischen dem achten Schuljahr und dem Ende der Schulpflicht ein Jahr darauf. Laut Gesetz soll sie auf das weitere Leben und insbesondere das Berufsleben vorbereiten. Das Poly ist schon seit längerem ein Sorgenkind der Bildungspolitik. Die Zahl der Schüler, die eine Polytechnische Schule besuchen, sinkt kontinuierlich. Bei der PISA-Studie sind die Leistungen ihrer Schüler schlechter als jene von anderen. Auch die Wirtschaft ist mit den Absolventen unzufrieden. Die OECD kritisierte im Jahr 2010, dass Schüler in kurzer Zeit erst von der Hauptschule auf die Polytechnische und dann weiter an die Berufsschule wechseln. Der doppelte Schulwechsel wirke sich negativ auf den Lernerfolg aus.

Sozialpartner wollen Poly abschaffen

Die Regierung hat bis zum Sommer 2012 eine Aufwertung des Poly durch die Einführung einer Mittleren Reife angekündigt. Bisher wurden allerdings keine Reformen beschlossen. Die Sozialpartner haben vor einigen Wochen vorgeschlagen, das Poly abzuschaffen und stattdessen die Neue Mittelschule um ein Jahr zu verlängern. Dem Modell zufolge muss jeder Schüler bestimmte Bildungsziele erreicht haben, bevor er die Schule abschließen kann. Eine Wiederholung des neunten Schuljahres ist möglich.

Sieben Fachbereiche

An der Polytechnischen Schule im 15. Bezirk können die Schüler zwischen den Fachbereichen Holz, Bau, Elektro, Handel und Büro, IT, Dienstleistungen und Tourismus wählen. An der Fachmittelschule, die sich im selben Haus befindet, gibt es zudem den Schwerpunkt Oberstufentrainig. Die Fachmittelschule ist ein Projekt der Polytechnischen Schule in Wien. Diese Schulform sei bei Schülern beliebter, sagt Direktorin Poppe. Die Schüler hoffen, mit dem Abschluss einer Fachmittelschule leichter eine Lehrstelle zu finden. Im Gegensatz zum Poly müssen sie für diese Schule einen positiven Hauptschulabschluss vorweisen, um einen Platz zu bekommen, was aber fast alle Schüler und Schülerinnen der PTS auch schaffen.

Lehrer als Sozialhelfer

Die Polytechnischen Schulen sind verpflichtet, an ihrer Schule auch Jugendliche aufzunehmen, die ein Nicht genügend in ihrem Abschlusszeugnis haben. Zudem suchen jene, die nach dem neunten Schuljahr an einer Mittelschule noch keine Lehrstelle finden, hier nach Berufsorientierung. Als Restschule würde Poppe ihre Schule deshalb aber nicht bezeichnen: "Die brauchen uns ganz dringend, und wir sind für sie da, und das ist ganz wichtig." Der Vorteil des Poly sei, dass sich die Lehrer hier auch um die sozialen Probleme der Schüler kümmern könnten. "Der Lehrplan ist nicht so dicht gedrängt." Bei der Führung durch die Schule sieht man zwei Lehrerinnen mit einer Schülerin zusammensitzen. Sie reden leise auf sie ein, das Mädchen blickt unsicher geradeaus. "Da wird gerade ein Problem besprochen", sagt Poppe im Vorbeigehen.

Bitte und Danke sagen

Die sozialen Probleme beginnen laut Poppe bei den Umgangsformen. "Wir stellen fest, dass die Kinder mit einem großen Mangel im Sozialen kommen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum sie bei uns an der Schule sind." Die Schüler müssen grüßen und Bitte und Danke sagen lernen. "Zu Schulbeginn stehen etliche mit den Händen in der Hosentasche, mit Kaugummi im Mund und mit einem Kapperl auf dem Kopf vor mir." Sie habe dann immer das Gefühl, das sei normal für ihre Schüler. "Sie haben nie gehört, dass man das nicht macht", erklärt sich Poppe das Verhalten. "Ich sage ihnen: Hände aus dem Hosensack, wir schauen einander in die Augen, wenn wir miteinander sprechen, wir geben uns die Hand." Das zu lernen sei vor allem für Vorstellungsgespräche um eine Lehrstelle wichtig.

Neben Deutsch, Mathematik und Englisch lernen die Schüler am Poly auch die Grundzüge der Arbeit ihres Fachbereichs. Das Ziel dabei sei, dass die Schüler das Material kennenlernen, mit dem sie arbeiten werden, erklärt Poppe. "Die Schüler müssen lernen, dass wir hier arbeiten, nicht basteln." Die drei Werkstätten für Holz, Metall und Elektronik sind nebeneinander im Keller des Schulgebäudes untergebracht. Die Metaller feilen gerade an ihren Werkstücken, ein Schüler ist mit seinem Schlüsselbrett schon fast fertig. Die Schüler arbeiten konzentriert und leise, in jeder Werkstatt sind rund zwölf von ihnen bei der Arbeit.

"Hast du schon eine Lehrstelle gefunden?"

In der Werkstatt für den Fachbereich Holz bauen die Schüler gerade ein Bücherregal für die Schule. Die Direktorin plant eine Leseecke am Gang, in der Bücher aufgelegt werden sollen. "Wenn die Bücher nicht mehr zurückkommen, freut uns das", so Poppe. "Hast du schon eine Lehrstelle gefunden?", fragt sie das einzige Mädchen in der Werkstatt. Sie schüttelt den Kopf. Es ist April, das Schuljahr geht noch bis Juni, bis Herbst müssen die Schüler einen Platz an einer weiterführenden Schule oder eine Lehrstelle finden.

Die erfolgreiche Lehrstellensuche ist an Poppes Schule die oberste Priorität. Die Lehrer helfen den Schülern dabei, ihren Lebenslauf zu schreiben und eine Bewerbungsmappe zusammenzustellen. Wenn sie mit Firmen telefonieren, stehen sie dabei. Vorher gehen sie das Gespräch gemeinsam durch. Diese Hilfestellungen und das Lernen von Umgangsformen sind für Poppe wichtiger als die fachliche Ausbildung.

Stoff nachholen oft unmöglich

Die viele Beschwerden von Unternehmen über eine mangelhafte Ausbildung von Lehrlingen kann sie nachvollziehen. "Ich habe früher Englisch unterrichtet, und manchmal hatte ich das Gefühl, die Kinder hatten keine vier Jahre Englischunterricht davor." Die Lehrer seien bemüht, die Kenntnisse in Mathematik, Deutsch und Englisch nachzuholen, aber es sei oft nicht möglich, Defizite von vorangegangenen Jahren in nur einem aufzuholen. Diese Defizite seien vielfach auch der Grund, warum diese Schüler nicht an weiterführenden Schulen aufgenommen wurden.

Poly als Neustart

Für Poppe spricht einiges dagegen, dass das Poly abgeschafft wird. Sie kenne die Neuen Mittelschulen und wisse, dass dort eine fachliche Ausbildung nicht möglich sei. "Den Kindern tut es auch sehr gut, wenn sie im letzten Jahr andere Lehrer haben und ein komplett anderes Umfeld." Die Schüler gingen unbedarft zu Tür herein und hätten die Möglichkeit, neu anzufangen. "Wir hören von den Lehrern der Neuen Mittelschule öfter: Was, der ist bei euch so? Bei uns war er ganz anders."

Im Juni werden die Schüler gefragt, welche Pläne für die Zeit nach der Schule sie haben. "Die meisten gehen in den Handel, obwohl sie eigentlich lieber eine andere Lehrstelle gehabt hätten, aber keine bekommen haben", sagt Poppe. Was ihre Schüler im Herbst dann tatsächlich machen, weiß sie nicht. Im Schuljahr 2011/12 wechselten 65 Prozent der 18.500 Poly-Schüler an eine Berufsschule und damit in eine Lehre. 13 Prozent besuchten eine berufsbildende mittlere oder höhere Schule. 20 Prozent haben keine weitere Ausbildung in Österreich gemacht. Direktorin Poppe würde sich für diese insgesamt 2.000 Schüler wünschen, dass sie weiter im Schulsystem bleiben können. "Auch, um sie von der Straße wegzukriegen." (Lisa Aigner, derStandard.at, 11.4.2013)